«Korrosion» stammt vom lateinischen «corrodere», zernagen. Darunter versteht man die allmähliche Zerstörung eines Stoffes durch Einwirkung von Stoffen aus seiner Umgebung. Spezialisten der Empa nehmen solche Prozesse unter die Lupe und können Wege finden, um Materialversagen durch Korrosion zu verhindern – lange bevor sich Katastrophen wie in Genua ereignen.
Der Bauherr einer neuen Schweizer Industrieanlage für Hightech-Geräte stand vor einem Rätsel: Kilometerlange, nagelneu verlegte Druck- und Kühlleitungen aus nichtrostendem Stahl und Aluminium im Wert von mehreren hunderttausend Franken fingen noch während des Baus an zu korrodieren. Was hatte die Metalle so schnell angegriffen? Experten der Empa nahmen das ganze System unter die Lupe: Waren korrosive Baustoffe im Spiel, waren Reinigungsmittel schuld, oder waren schlicht die falschen Materialien ausgewählt worden? Schliesslich fanden sie den Schuldigen in Form einer kleinen Flasche auf einem Werkstattwagen: Der Montagetrupp hatte statt eines professionellen Dichtigkeitsprüfmittels ein Universalreinigungsmittel aus dem Supermarkt verwendet, um mit dem Schaum Undichtigkeiten zu lokalisieren. Doch das Mittel aus dem Supermarkt enthielt Säuren und Chloride, die die Metalle korrodieren liessen.
Szenenwechsel: Dem Hausmeister einer Schule in der Ostschweiz fällt bei Reinigungsarbeiten in den Frühjahrsferien 2019 Korrosion an den Befestigungen der Deckenlampen in der Turnhalle auf. Die Schulverwaltung zieht den Architekten zu Rate, der den Bau seinerzeit beaufsichtigt hatte. Der Architekt informiert die Empa. Die Deckenverkleidung wird abgebaut. Ergebnis: Die gesamte Deckenkonstruktion weist massive sicherheitsrelevante Korrosionsschäden auf. Bei der Sanierung einige Jahre zuvor hatten die Arbeiter, aus Unkenntnis des Materials, Metallhaken durch Isolationsplatten aus Phenolharz-Schaum gebohrt. Kondenswasser liess die Isolation später feucht werden. Der Phenolharzschaum entwickelte daraufhin starke Säuren, die die Befestigungshaken praktisch durchrosten liessen. Die Decke wäre irgendwann herabgestürzt.
Ingenieur und Wissenschaftler – zwei Herzen in einer Brust
Ist das also die typische Tätigkeit von Korrosionsforschern? Sind sie so etwas wie die Pathologen der Bauwirtschaft, die Material-Leichen sezieren und immer von Neuem nach Tätern suchen? Keineswegs. Korrosionsforscher sind viel mehr. Sie arbeiten an der Schnittstelle zwischen Materialwissenschaft und Konstruktion einerseits, Chemie und Physik andererseits. Mit einem Bein sind sie Ingenieure, mit dem anderen Naturwissenschaftler. Und sie betrachten nicht nur Fehler der Vergangenheit, sie blicken auch in die Zukunft.
Ein Beispiel: die Wasserstoffwirtschaft. Die angestrebte Energiewende wird es in den nächsten Jahren nötig machen, grosse Mengen an Überschussstrom in Wasserstoff umzuwandeln. Nur so ist Solar- und Windstrom aus dem Sommer bis in den Winter speicher- bar. Doch dazu braucht es nicht nur Speichertanks, sondern auch Leitungen, Ventile, Zapfpistolen, Transportfahrzeuge und diverses Zubehör, etwa Zählwerke für die gelieferte Menge des Gases. All dies muss aus hochfesten Stählen gebaut sein, die Hunderte Atmosphären Druck aushalten und mit Dichtungen versehen sein, die Leckagen über Jahre verhindern. Doch Wasserstoff dringt in manche Stähle ein und führt schon bei normalen Umgebungstemperaturen zu einer Versprödung des Stahls. Bei Temperaturen über 300 Grad Celsius reagiert der Wasserstoff zusätzlich mit dem Kohlenstoffanteil des Stahls und verschlechtert dessen Qualität. Die Empa erforscht schon heute die Mechanismen der so genannten Wasserstoff-Versprödung und entwickelt Materialien für die Energieversorgung der Zukunft.
Spurensuche mit Mikrosensoren
Fatalerweise entsteht Wasserstoff nicht nur gewollt, er kann auch bei der Korrosion entstehen und in das Material eindringen. Und dort hat er, in kleinsten Mengen eingelagert, die gleiche zerstörerische Wirkung: Er macht Hightech-Legierungen spröde und bruchanfällig. Um zu verstehen, was passiert und wie dies zu verhindern ist, müssen die Forscher ganz nahe an die Mikrostruktur eines Materials heranzoomen und die chemischen Reaktionen in winzigen, von Korrosion betroffenen Bereichen untersuchen. Die Empa hat hierfür eigens Mikrosensoren entwickelt, die Oberflächen von weniger als einem hunderttausendstel Quadratmillimeter analysieren können und dabei weniger als ein millionstel Gewichtsprozent Wasserstoff aufspüren. Mit diesen Methoden untersuchen sie kritische Zonen in Bauteilen, etwa Schweissnähte, die durch atomaren Wasserstoff spröde werden und letztlich versagen könnten.
Lars Jeurgens leitet seit 2012 die Empa-Abteilung «Fügetechnologie und Korrosion» und pflegt mit seinem Team eine gut ausbalancierte Mischung aus Forschung und industrierelevanten Dienstleistungen. «Wir haben Absolventen der ETH Zürich und der EPFL bei uns im Team und nutzen das geballte Wissen dieser beiden führenden Ingenieursschulen», sagt Jeurgens. Er selbst stammt aus Holland, hat lange am Max-Planck-Institut in Stuttgart gearbeitet. «Korrosion kennt keine Grenzen – daher sind wir international sehr gut mit Experten aus Wissenschaft und Industrie vernetzt und tauschen uns über neuste Erkenntnisse und Methoden aus. Es ist sehr wertvoll für uns, diese Erfahrungen zu teilen. Gemeinsam lassen sich viele komplexe Probleme leichter und schneller lösen.»
Alle Hände voll zu tun
Und es gibt wahrlich genug zu tun für die Korrosionsspezialisten. So arbeitet etwa die Auto- und die Flugzeugindustrie immer häufiger mit Verbundwerkstoffen, die aus unterschiedlichsten Materialien zusammengesetzt sind. Über deren Korrosionsverhalten unter teilweise extremen Bedingungen ist nur wenig bekannt. Vielenorts sind auch Legierungen aus Eisen, Titan und Aluminium im Einsatz. Sie verdanken ihre Korrosionsbeständigkeit einer winzigen, nanometerdünnen Passivschicht an ihrer Oberfläche, die man nur mit speziellen Analysenmethoden überhaupt nachweisen – und erst dann optimieren – kann.
Schliesslich wirft auch die Anwendung von funktionellen Beschichtungen bei miniaturisierten elektronischen Geräten und Bauteilen neue Korrosionsfragen auf. Lars Jeurgens gibt ein Beispiel: «Wenn ich eine Turbine mit einer korrosionsfesten Beschichtung herstelle und da jedes Jahr ein Hundertstelmillimeter Materialstärke verlorengeht, dann ist das kein Problem. Doch die gleiche Beschichtung an einem elektronischen Gerät, die nur ein Hundertstelmillimeter dünn ist, wäre nach einem Jahr komplett weg. Was im Grossmassstab korrosionsfest erscheint, ist es im Mikromassstab also bei weitem nicht mehr. Wir brauchen also neue Konzepte für die Einstufung der Korrosionsempfindlichkeit eines Materials.»
Korrosion im menschlichen Körper
Bisweilen tritt Korrosion sogar dort auf, wo man sie am wenigsten vermutet: mitten im menschlichen Körper mit seinen warmen, anscheinend harmlosen Körperflüssigkeiten. Experten der Empa untersuchen den Abbau durch lokale Korrosion an Materialien wie Edelstahl und Titanlegierungen, die häufig für Implantate verwendet werden, sowie an Silizium, das in zahlreichen neuen Implantaten enthalten ist. Auf grossen, glatten Flächen geschieht dabei wenig, doch in mikroskopisch kleinen Spalten, die konstruktionsbedingt vorkommen, können menschliche Körpersäfte so einiges anrichten. Vor kurzem konnte ein Empa-Team etwa die langsame Auflösung einer Silizium- Haftvermittlungsschicht im Labor nachweisen. Zwischen dem Implantat aus Titan und der abriebfesten Beschichtung war ein mikroskopischer Spalt entstanden. Dort kann unter Sauerstoffausschluss ganz langsam ein sehr aggressives Medium entstehen, das dann mit Hilfe der körpereigenen Phosphorverbindungen die Silizium-Haftvermittlungsschicht zerstören kann. Die Empa-Forscher sind mit speziellen Sonden in der Lage, auch die lokale Korrosionschemie in solch feinen Spalten aufzuklären und die Korrosionsvorgänge für Versuchszwecke gar zu beschleunigen. So kann schon vor der Operation die voraussichtliche Nutzungsdauer eines Implantats recht genau vorausgesagt werden.
Korrosionsforschung ist in vielen Lebensbereichen enorm wichtig, und doch wird die Arbeit der Pathologen der Ingenieurswelt oft noch unterschätzt. Lars Jeurgens und seine Kollegen machen sich dafür stark, an Universitäten und technischen Hochschulen wieder mehr Wert auf Know-how in diesem Bereich zu legen. «Korrosion gehört auf die Checkliste für jedes Bauvorhaben und jede Produktentwicklung – und zwar nicht erst am Schluss, sondern schon in der Reissbrett-Phase», so Jeurgens. «Oft werden wir für eine Analyse erst dann angefragt, wenn die Farbprospekte für ihr Produkt bereits gedruckt sind. Doch dann können wir oft nichts mehr für die Auftraggeber tun.»