Aus den Medien konnte man die Tage entnehmen, dass es im Jahr 2022 so viele Absenzen am Arbeitsplatz gab wie noch nie. Die Kosten für die Unternehmen gehen dabei in die Milliarden. Wie sieht es mit der Lohnfortzahlungspflicht aus?
Autor: Michel Rohrer
Die Absenztage der letzten zehn Jahre kennen nur eine Richtung – und zwar nach oben. Waren es 2010 noch rund eine Arbeitswoche im Durchschnitt pro Arbeitnehmenden und Jahr, sind es aktuell bereits zwei Arbeitswochen pro Jahr und Arbeitnehmenden.
Arbeitgebende haben also zunehmend mit krankheitsbedingten Absenzen zu kämpfen. Wie verhält es sich diesbezüglich mit der Lohnzahlungspflicht? Sind diese in den Arbeitsverträgen oder -reglementen korrekt geregelt?
Gesetzliche Lohnfortzahlungspflicht
Die Lohnfortzahlung ist in Art. 324a OR (Obligationenrecht) unter dem Titel «Lohn bei Verhinderung an der Arbeitsleistung» nur ansatzweise geregelt. Aus gesetzlicher Sicht hat der Arbeitgeber im ersten Dienstjahr den Lohn für drei Wochen und nachher für eine angemessene längere Zeit zu entrichten, je nach der Dauer des Arbeitsverhältnisses und den besonderen Umständen (Art. 324a Abs. 2 OR).
Weil der Gesetzgeber die Länge der Vergütung nicht weiter geregelt hat, hat die Gerichtspraxis die «Basler-, Berner- und Zürcher-Skalen» entwickelt, welche die Länge der minimalen Lohnfortzahlung bei Krankheit ausführlicher «regeln».
Vertragliche Lohnfortzahlungspflicht
Das Gesetz lässt jedoch auch abweichende Regelungen zu, sofern diese für den Arbeitnehmenden mindestens gleichwertig sind (Art. 324a Abs. 4 OR).
Nach herrschender Lehre und bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist eine Regelung jedenfalls dann gleichwertig, wenn sie bei hälftiger Prämienteilung Taggelder von 80 Prozent des Lohnes während maximal 720 innert 900 Tagen ausrichtet. Die Karenzfrist (also der Zeitraum, wo überhaupt keine Lohnfortzahlung erfolgt) darf dabei maximal drei Tage betragen.
Die gängigen Krankentaggeldversicherungen decken in der Regel – nach einer Wartefrist von 20, 30 oder mehr Tagen – 80 Prozent des Lohnes während maximal 720 innert 900 Tagen und erfüllen damit die geforderte Gleichwertigkeit.
Wird die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers somit durch eine Krankentaggeldversicherung ersetzt, ist der Arbeitgeber grundsätzlich – mit Ausnahme der Lohnfortzahlung während der Wartefrist des Krankentaggeldversicherers – von jeder weiteren Lohnzahlung befreit.
Lohnfortzahlung während der Wartefrist des Krankentaggeldversicherers
Regelt der Arbeitgeber vertraglich nichts mit dem Arbeitnehmenden, so ist die Lohnfortzahlung während der Wartefrist des Krankenttaggeldversicherers grundsätzlich zu 100 Prozent des AHV-Lohnes zu gewähren. Dies gilt mit Ausnahme der Karenzfrist gemäss Art. 324a Abs. 1 OR sowie möglicher Karenztage oder allfälliger anderslautende arbeitsvertraglicher Abreden.
Der Arbeitgeber hat beispielsweise folgende Möglichkeiten, er kann vertraglich:
- die ersten drei Krankheitstage als Karenztage ohne Lohnzahlung vereinbaren;
- die Lohnfortzahlung während der Wartefrist des Krankenttaggeldversicherers auf 80 Prozent des AHV-Lohnes festsetzen.
Was versteht man unter der Karenzfrist?
Die Karenzfrist umfasst die ersten drei Monate eines Arbeitsverhältnisses. Hat das Arbeitsverhältnis noch nicht mehr als drei Monate (zum Beispiel während der Probezeit) gedauert oder wurde das Arbeitsverhältnis für weniger als drei Monate eingegangen (zum Beispiel aufgrund eines befristeten Arbeitsvertrages), muss der Arbeitgeber grundsätzlich keine Leistungen bei unverschuldeter Arbeitsverhinderung erbringen.
Massgebend sind in diesem Zusammenhang jedoch die Bestimmungen konkreter Abreden bzw. des massgebenden Normal- oder Gesamtarbeitsvertrages. Diese können nämlich auch eine andere Regelung vorsehen.
«Neuer Trend – Vorerkrankung»
In den letzten Jahren lässt sich darüber hinaus auch ein «neuer Trend» erkennen. Ursprüngliche Arbeitsunfälle werden nach einer gewissen Zeit als «Krankheit» eingestuft und zwar aufgrund einer «krankheitsbedingten Vorerkrankung».
Vereinfacht ausgedrückt wird dabei beispielhaft folgendermassen argumentiert: Ursprünglich fand zwar ein Unfallereignis statt und dabei wurde beispielsweise der Fuss gebrochen. Erfahrungsgemäss braucht die Knochenheilung vier bis acht Wochen. Sind demnach nach zehn Wochen immer noch Beschwerden vorhanden, muss es sich um eine Vorerkrankung handeln. Das heisst: der Knochen war «krankheitsbedingt» vorgeschädigt und heilt nun nicht so, wie dies aus medizinischer Sicht bei einem vorher gesunden Knochen zu erwarten ist.
Mit dieser oder ähnlicher Argumentation stellt der Unfallversicherer die Zahlung ein. Da der Arbeitnehmende jedoch nach wie vor «arbeitsunfähig» geschrieben ist, wird der Fall nun an die Krankentaggeldversicherung weitergereicht, mit der Folge, dass zunächst der Arbeitgeber den Lohn während der Wartefrist selbst bezahlen muss.
Tipp: Hier kann jedoch vorgebeugt werden und zwar indem man in der Krankentaggeldversicherung die Klausel «Verzicht auf Wartefrist nach Unfall» vereinbart.
Keine Versicherung zahlt – was nun?
Was passiert, wenn kein Versicherer (mehr) bezahlt? Angenommen sowohl der Unfallversicherer als auch der Krankentaggeldversicherer verweigern die Leistung. Dann muss der Arbeitgeber den Lohn während der «unverschuldeten Arbeitsverhinderung» selbst bezahlen – im dümmsten Fall während zwei Jahren!
Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn im Arbeitsvertrag folgendes geregelt ist:
«Arbeitsverhinderung bei Krankheit: Die Entschädigung und beträgt 80% des versicherten AHV-Lohnes und wird im Krankheitsfall während maximal 720 Tagen ausgerichtet.»
Bei einer solchen Formulierung riskiert der Arbeitgeber bei einer Leistungsverweigerung selber während 720 Tagen im Krankheitsfall das Gehalt bezahlen zu müssen.
Besser wäre demnach eine Formulierung wie: «[…] Die Lohnfortzahlung bei unverschuldeter Krankheit richtet sich nach den Vorschriften von Art. 324a OR und beträgt während der Wartefrist der Krankentaggeldversicherung 80% des (Brutto-)Lohnes ab dem 4. Tag nach Krankheitsbeginn (Karenztage).
Im Falle einer Leistungsverweigerung der jeweiligen Versicherung, ist die Arbeitgeberin lediglich für die beschränkte Dauer gemäss Basler Skala zur gesetzlichen Lohnfortzahlung verpflichtet, sofern das Arbeitsverhältnis mehr als 3 Monate gedauert hat. […]»
Fazit und Schlussbemerkung
Die Thematik «Lohnfortzahlung bei Krankheit» ist aktueller den je und birgt neben Chancen (zum Beispiel der Vereinbarung von Karenztagen oder einer 80 Prozent Lohnfortzahlung) auch gewisse Risiken, beispielsweise bei Leistungsverweigerung des Krankentaggeldversicherers.
Da im Durchschnitt die jährliche Abwesenheit pro Arbeitnehmer rund zwei Arbeitswochen beträgt, müsste gegebenenfalls auch die vereinbarte Wartefrist geprüft oder verkürzt werden.
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Problematik mit den krankheitsbedingten Absenztagen empfehle ich jedem Unternehmen, die Lohnfortzahlungspflicht und die damit verbundenen arbeitsvertraglichen Regelungen von einer Fachperson überprüfen zu lassen.
Der Autor lic. iur. Michel Rohrer ist ein ausgewiesener Spezialist für Arbeits- und Gesundheitsrecht und verfügt u.a. über eine Zusatzausbildung als Sicherheitskoordinator nach EKAS, Mail: michel.rohrer@aequitas-ag.ch, www.aequitas-kontrollen.ch, Tel. 061 281 75 15.