Das sicherheitspolitische Umfeld wird immer fragmentierter und komplexer. Hier spielen die Fähigkeiten der Antizipation und Früherkennung des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) eine führende Rolle. Es gilt Bedrohungen rechtzeitig zu identifizieren und zu beurteilen und dann die notwendigen präventiven Massnahmen zu ergreifen. In einer neuen vereinfachten Form veröffentlicht, stellt der Jahresbericht des NDB die wichtigsten Lageentwicklungen aus nachrichtendienstlicher Sicht vor.
Die Krisensituationen in Europa, die der NDB nun seit einigen Jahren in seinem Lagebericht beschreibt, sind durch die starke Zunahme nichtstaatlicher Akteure und die Möglichkeiten der hybriden Kriegführung gekennzeichnet. Die Rückkehr der Machtpolitik mit teils ausgeprägt unilateralen Zügen, erhöhte Spannungen zwischen den westlichen Staaten und Russland, aber auch die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen in europäischen Ländern sind Teile eines scheinbar kaum mehr fixierbaren Lagebildes. Die alte Ordnung wandelt sich unter dem Druck neuer politischer, wirtschaftlicher, militärischer, aber auch technologischer, sozialer und kultureller Kräfte. Wo dieser Wandel hinführt, ist ungewiss. In dieser Welt der Verunsicherung und wachsender Unsicherheit ist der Beitrag des NDB von grösster Bedeutung: Das aus nachrichtendienstlichen Erkenntnissen zusammengefügte Gesamtlagebild ergänzt die Entscheidungsgrundlagen der sicherheitspolitisch Verantwortlichen wesentlich.
Wachsende Rivalität zwischen den Grossmächten
Im Bann eigener Krisen und Machtkämpfe nimmt die politische Stabilität und wirtschaftliche Robustheit Europas ab. Als Folge davon werden die negativen Auswirkungen der Rückkehr der Machtpolitik und damit der wachsenden machtpolitischen Rivalitäten zwischen den USA, Russland und China auf die Sicherheit der Schweiz immer deutlicher sichtbar. Die zunehmende Unsicherheit in ihrem Umfeld gewinnt für die Schweiz sicherheitspolitisch an Bedeutung.
Die USA setzen zur Wahrung ihrer Sicherheit und ihrer nationalen Interessen im globalen strategischen Wettbewerb neben militärischer Stärke auch stark auf wirtschaftlichen Druck. Ein wichtiges Instrument sind dabei extraterritorial wirkende sekundäre Sanktionen. Damit sollen insbesondere in der Iranpolitik Drittstaaten und grosse international tätige Unternehmen gezwungen werden, die Vorgaben der USA zu akzeptieren.
Das gewachsene Selbstvertrauen Russlands beruht vor allem auf seiner wiedergewonnenen militärischen Stärke und dem straff organisierten Machtapparat unter Präsident Putin. Es will als Grossmacht auf Augenhöhe mit den USA wahrgenommen werden. Einschränkungen in den militärischen Kapazitäten bleiben allerdings bestehen. Russland wird deshalb weiterhin auf Beeinflussungsoperationen setzen, also auf Aktivitäten wie Informationskampagnen, Manipulation und Propaganda bis hin zu offenem politischem, militärischem und wirtschaftlichem Druck. Auch Erpressung und, in einzelnen Fällen, gewaltsame Aktionen bleiben möglich.
China wird weiterhin alles daransetzen, wirtschaftlich und militärisch zu wachsen: Eine grundlegende Abkehr vom bisherigen Kurs bleibt sehr unwahrscheinlich. Iran wird versuchen, die Präsidentschaft Trump auszusitzen, und nicht kapitulieren. Ein vollständiger Verzicht Nordkoreas auf Nuklearwaffen und für deren Einsatz geeignete Trägersysteme bleibt unwahrscheinlich, auch wenn es punktuell Abrüstungssignale sendet.
Die Spionage hat an Gewicht gewonnen – als Mittel der Informationsbeschaffung befindet sie sich weltweit im Aufwind. Russland mit einer grossmachtpolitisch und China mit einer insbesondere wirtschaftlich getriebenen Agenda stehen hier an erster beziehungsweise zweiter Stelle. Der breitere, zahlreiche andere Staaten mitumfassende Trend, Interessen vermehrt mit Macht anstatt mit rechtlichen Mitteln oder in multinationalen Gremien durchzusetzen zu versuchen, könnte vermehrt zu schweren Straftaten wie Entführungen oder Ermordungen auf staatliches Geheiss führen. Ausländische Nachrichtendienste dürften bei der Vorbereitung, der Durchführung und der Nachbehandlung solcher Aktionen eine Rolle spielen. Auch der Einsatz von Cybermitteln als zentralem Instrument nationaler Machtausübung dürfte weiter an Gewicht gewinnen.
Im Bereich der Proliferation bleibt die Attraktivität von Massenvernichtungswaffen hoch, und der technische Fortschritt begünstigt deren Erwerb. Im Bereich der zivilen Kerntechnologie ist es heute China, das die Dynamik prägt. Damit verschieben sich auch Schwergewichte der Verpflichtung für die Nonproliferation und für das Verhindern des Entstehens neuer Kernwaffenstaaten. Bei den Zielländern der Proliferation – Pakistan, Iran, Syrien (möglicher Ersatz für Chemiewaffenprogramm), Nordkorea – hat sich die Lage nicht verändert.
Der Terrorismus bleibt trotz der Zerschlagung des Kalifats aktuell
Der Nahe und der Mittlere Osten sowie Nordafrika mitsamt der Sahelzone bleiben Schauplätze zahlreicher kriegerischer und bewaffneter Konflikte. So haben das syrische Regime und seine russischen und iranischen Verbündeten zwar die Aufständischen strategisch geschlagen, den Sieg aber noch nicht errungen. Der „Islamische Staat“ und andere dschihadistische Gruppierungen sind trotz massiven Verlusten nach wie vor zu grösseren Anschlägen fähig. Dschihadistische Gruppierungen und die von ihnen gelenkten oder inspirierten Personen und Kleingruppen stellen nach wie vor eine ernsthafte terroristische Bedrohung für Europa dar. Weil die Schweiz zur westlichen, von Dschihadisten als islamfeindlich eingestuften Welt gehört, bleibt die Bedrohung in unserem Land erhöht. Eine Herausforderung für die Schweiz, genauso wie für seine europäischen Nachbarn, ist der Umgang mit Fällen von Haftentlassenen oder Personen, die sich im Gefängnis radikalisiert haben. Die Schweiz wird auch mit rückkehrwilligen dschihadistisch motivierten Reisenden konfrontiert werden, darunter auch Personen, die derzeit in Syrien oder im Irak festsitzen.
Die rechtsextreme Szene im Aufbruch
Die rechtsextreme Szene ist im Aufbruch und mehrere Gruppierungen verfügen mittlerweile über offene Webseiten. Trotz dieser neuen Neigung zu einer gewissen Sichtbarkeit verhält sich die Szene weiter konspirativ. Ihr Gewaltpotenzial bleibt jedoch unverändert vorhanden, ebenso dasjenige der linksextremen Szene. Diese ist international vernetzt, was mit ein Grund für die seit 2017 feststellbare teilweise Intensivierung der Gewaltausübung sein dürfte. Die Linksextremen bündeln ihre Aktionen zu Kampagnen, insbesondere gegen die vermeintliche Repression und hier namentlich gegen die Erweiterung des Gefängnisses Bässlergut in Basel, und solidarisieren sich mit der PKK zugunsten der kurdischen Selbstverwaltungsgebiete in Nordsyrien. Die Rückkehr von an Waffen ausgebildeten Linksextremen aus diesen Gebieten beschäftigt die europäischen Sicherheitsbehörden.