Freitag, 20. September 2024
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«Giorgio war ein bisschen aufgedreht», sagt Dogi. «Er hatte einen roten Kopf und wir sagten noch, mach langsam, sonst bekommst Du einen Herzinfarkt.» Die Bedeutung dahinter wurde allen erst etwas später bewusst.

Für Giorgio selbst war eigentlich alles wie immer an diesem 18. September 2015. Er war 58 Jahre alt. Vier Jahre vorher hörte er auf zu rauchen, begann sich mehr zu bewegen und noch vor wenigen Monaten war er beim Kardiologen. Alles war gut.

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An diesem Tag gab es bei Stahl Gerlafingen AG einen Materialaustritt. Georg Schenk, von allen im Betrieb Giorgio genannt, beeilte sich. Er nahm zwei Treppenstufen mit einem Schritt. Er fühlte sich gut. Die Störung wurde behoben, das Walzwerk wieder angelassen und man arbeitete weiter. «Dann merkte ich, dass etwas nicht stimmt», sagt Giorgio. «Mir wurde schlecht und schwindlig. Ich dachte, ich sei unterzuckert und meldete mich bei einem Betriebssanitäter. Bring mal das Zuckermessgerät, sagte ich.» Er legte das Telefon auf und zehn Sekunden später hatte er einen stechenden Schmerz im linken Arm. Er rief den Betriebssanitäter wieder an und sagte, er habe wohl ein anderes Problem. «Ich fühlte mich elend und ging zum Lavabo. Das wars. Ich fiel hin und von da an weiss ich nichts mehr.

Minuten werden zu Stunden

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Dogi hingegen weiss noch genau, wie es weiterging. «Ich hatte ein komisches Gefühl», erinnert er sich. «Aus irgendeinem Grund dachte ich, ich müsse Giorgio anrufen, ob es ihm gut geht. Er nahm das Telefon nicht ab. Ich dachte mir nichts dabei. Dann schrie einer, Dogi komm, Giorgio hat einen Herzinfarkt. Ich rannte los. Alles flog weg, der Helm, die Taschenlampe. Ich rannte wohl noch nie so schnell in meinem Leben.»

Dogi, der eigentlich Dogukan Durmaz heisst, eilte hinauf zur Hauptsteuerung. Dort lag Giorgio und blutete am Kopf. Der Schichtführer hatte schon auf dem Weg den Defibrillator geholt und begann bereits mit der Reanimation. «Es war extrem, was da abging», sagt Dogi. «Da lag ein Kollege am Boden, blutete und atmete nicht mehr. Wir wechselten uns mit der Herzmassage ab, wie wir es in den Kursen trainiert hatten. Ich dachte, ich breche ihm die Rippen. Und es kam mir vor, als hätte es zwei Stunden gedauert. Aber es waren nur 15 Minuten.»

Eine weitere Herausforderung war: Als die Betriebssanitäter den Defibrillator in Einsatz nahmen, hiess es, die Batterie sei schwach. Einen Tag vorher, also am 17. September 2015, wurde bei der Kontrolle des Verfallsdatums festgestellt, dass die Batterien abgelaufen sind. Man bestellte neue. Die waren aber natürlich noch nicht da. Trotzdem hatte der Defibrillator noch genügend Schocks drauf. Und die brauchte es. Sechs Mal mussten die Betriebssanitäter defibrillieren, bis der Rettungsdienst vor Ort war. Da werden Minuten tatsächlich zu Stunden.

Ohne Schulung wäre das nicht möglich gewesen

Dogi hatte sich von Beginn an bereit erklärt, bei der Betriebssanität von Stahl Gerlafingen AG mitzumachen und wurde gleich nach der Lehre zu ersten Kursen angemeldet. «Ich machte diese Kurse mit, interessierte mich auch dafür, aber ich hätte nie erwartet, dass so etwas tatsächlich passieren könnte», sagt er. «Bei uns geht es meistens um Schnittverletzungen oder Verbrennungen. Aber zum Glück machte ich diese Kurse. Jeder, der Betriebssanitäter sein kann, sollte das machen. Vor allem die Jungen!»

Während der Schulung lernten die Betriebssanitäter beispielsweise, dass man den Defibrillator auf einem Metallboden, wie er unter Giorgio war, eigentlich nicht anwenden darf – aber je nachdem doch anwenden kann. «Wir zogen ihn einfach auf einen Teppich und legten los», erzählt Dogi. Das lernten sie von den Kursleitern der notfallTraining Schweiz GmbH, die diese für Stahl Gerlafingen AG massgeschneiderten Kurse durchführen. «Das gehört zu den Risikofaktoren und ich finde es wichtig, dass man die Betriebssanitäter auf das vorbereitet, das tatsächlich eintreffen kann», sagt Heidi Vock, Geschäftsführerin von notfallTraining Schweiz GmbH. «Ersthelfer müssen wissen, inwiefern man auf Metall defibrillieren kann oder nicht. Die eigene Sicherheit hat dabei Priorität. Es hilft niemandem, wenn man sich als Ersthelfer in Gefahr begibt.»

«Ohne Schulung wäre dieser Fall nicht erfolgreich gewesen», sagt Alfred Wüthrich, Leiter Arbeitssicherheit / Gesundheitsschutz bei Stahl Gerlafingen AG. «Die Betriebssanitäter arbeiteten schon länger hier, hatten das richtige Gefühl und konnten richtig reagieren. Das konnten sie nur, weil sie sich sicher fühlten und das trainiert hatten. Die Basis dafür war die Schulung. Sie wurden richtig an einen solchen Fall herangeführt und konnten das Gelernte genau umsetzen.»

Alfred Wüthrich tauscht sich regelmässig mit Heidi Vock von der notfallTraining Schweiz GmbH aus, um Übungen und Schulungen durchführen zu können, die für den Ernstfall bestmöglich wappnen. «Wir müssen unsere Mitarbeitenden befähigen, ihren Auftrag zu erfüllen», erklärt er. «Und befähigen heisst schulen. Der Schulungspartner ist da ganz entscheidend. Er muss unser Anliegen aufnehmen und umsetzen können. Alle unsere Schulungen sind massgeschneidert auf unsere Arbeitsplätze, auf unsere Prozesse und auf die jeweiligen Bedingungen. Nur wenn wir realitätsbezogen schulen, können wir wissen, ob es im Ernstfall funktioniert. Und diese Realität ist bei uns nicht ganz einfach. Wir arbeiten mit grossen Maschinen, gefährlichen Anlagen und mit Hitze.»

Jede der vier Schichten der Stahl Gerlafingen AG hat ihre Betriebssanitäter, aktuell sind es über 60, bei rund 500 Mitarbeitenden. Manche Betriebssanitäter sind schon länger dabei und helfen den neuen. Jedes Jahr absolvieren sie mindestens einen Tag Weiterbildung. Hinzu kommt, wenn möglich, eine grosse Notfallübung. Und natürlich sind auch die Einsätze eine Schulung. Davon gibt es zwischen 1100 und 1300 pro Jahr.

Üben, was geschehen kann

Für Heidi Vock ist das realitätsbezogene Schulen sehr wichtig. Dafür müsse man die Umgebung und die Bedingungen kennen. «Wenn ich bei Stahl Gerlafingen AG über Schwangerschaftsnotfälle rede, ist das wohl nicht sehr spannend für die Teilnehmer. Wir möchten den Kunden nur bieten, was sie brauchen. Wir müssen üben, was geschehen kann. Und in den Rückmeldungen heisst es oft, dass es im Notfall exakt so funktionierte, wie wir es geübt hatten. Das ist das höchste der Gefühle für mich.» Üben müsse man ganz besonders in einem Umfeld wie der Stahlverarbeitung möglichst regelmässig, damit es eine Routine gibt – und das am besten auch mit dem passenden Notfallmaterial. «Man soll kein Spital einrichten, sondern das Notfallmaterial übersichtlich und zweckmässig halten. Es soll wirtschaftlich sein und die Betriebssanitäter müssen das Material kennen. Deshalb binden wir auch genau dieses Material in die Schulung ein.»

Fortschritte seien in jedem Fall sichtbar. Der wichtigste: «Die Mitarbeitenden vertrauen den Betriebssanitätern», sagt Wüthrich. «Sie gehen auf sie zu, wenn sie ein Problem haben. Die Betriebssanitäter erkennen gesundheitliche Probleme oft schon präventiv. Seit ich hier bin gab es noch keine Situation, auf die sie nicht hätten reagieren können – und wir haben teils sehr besondere Notfälle, die nicht immer ganz offensichtliche Verletzungen sind.»

Purpurne Tücher

Giorgio bekam von allem nichts mit. Er wachte erst am elften Tag wieder auf, im Spital. Als erstes sah er seine Füsse. Das sagte ihm, dass er noch lebte. «Ich merkte während diesen Tagen aber schon, dass ich wohl noch da bin», erzählt er. «Ich wurde vollgepumpt mit Medikamenten. Die ersten drei Tage wusste man ja nicht, ob ich überleben würde. Ich hatte eine Lungenentzündung und die Medikamente waren heftig. Ich sage euch, ich hatte Fantasien in diesen Tagen! Ich sah beispielsweise purpurne Tücher fliegen, hörte jemanden sagen, es sei fertig, und dachte, was soll das, ich bin doch noch hier. Auch als ich wach war und von der Intensivstation in ein normales Zimmer verlegt wurde, sah ich Hologramme hinter dem Fernseher und alles ‘Wüeschte’.»

Seine Familie erzählte ihm, was er für verrückte Dinge von sich gab in dieser Zeit. Im Spital führten sie ein Tagebuch, das er erhielt. So konnte er nachvollziehen, was mit ihm gemacht wurde. «Das half auch, um diese Lücke zu füllen», sagt Giorgio. Und natürlich halfen die Betriebssanitäter, die ihn im Spital besuchten und ihm von der Rettung erzählten. «Sie sagten mir, was passierte, was sie machten. Sie erklärten mir, weshalb ich die Brandwunden vom Stahlboden habe. Es war schön, sie zu sehen», sagt Giorgio.

Dann ging Giorgio zur Kur, drei Wochen lang. Danach fühlte er sich wieder gut. Trotzdem kämpft er noch heute – nicht mit dem Infarkt, sondern mit den Medikamenten, die er nehmen muss und die sein Magen nicht verträgt. Das drückt auf die Lebensqualität. Und was ihm in den ersten Tagen und Wochen ein bisschen fehlte, waren mehr Möglichkeiten, um das Erlebte aufzuarbeiten. «Ich hatte zwar psychologische Betreuung, aber das war ein Gespräch von vielleicht 45 Minuten, während der Kur», erzählt er.

Einer von ihnen

Das Erlebte beschäftigte natürlich auch die Betriebssanitäter nach dem Einsatz. Sie arbeiteten an diesem Tag nicht mehr weiter. «Wir waren blockiert und wussten nicht, wie es Giorgio geht», erzählt Dogi. «Wir wussten, dass er noch lebte, als er ins Spital gebracht wurde. Aber danach kann noch viel passieren. Ich konnte das Ganze eigentlich gut verkraften, aber auch ich machte mir viele Gedanken. Wir haben im Team oft miteinander darüber geredet, wie es uns geht und wie es ihm geht. Wir haben jeden Tag auf einen Anruf und auf eine Nachricht gewartet. Und auch die Verantwortlichen im Betrieb fragten regelmässig nach, wie es uns geht.»

Für Alfred Wüthrich ist das sehr wichtig: «Es sind Menschen, die im Einsatz stehen. Nicht jeder wird gleich gut mit so etwas fertig und wenn jemand das nicht gut verkraften kann, müssen wir ihn unterstützen und nachbetreuen – so lange, bis es verarbeitet ist. Ich frage auch immer persönlich nach, unmittelbar nach dem Einsatz. Ich kenne meine Leute und kann erkennen, ob sie Hilfe brauchen. Das macht man am besten sofort, damit man darüber reden kann, bevor es ein grösseres Problem auslöst. Auch unseren Schulungsanbieter haben wir für die Nachbetreuung beigezogen, diese Dienstleistung aus einer Hand mit wenigen Schnittstellen ist ganz entscheidend. Die Mitarbeitenden erreichen uns dann Tag und Nacht. Und natürlich redet man im Team miteinander. In diesem Fall dauerte das eine lange Zeit und hört eigentlich auch nie auf. Es beschäftigte die Kollegen, ob Giorgio wiederkommt und wie es ihm geht. Er ist schliesslich einer von ihnen.»

Die Nachbesprechung zeigte: Die Betriebssanitäter machten alles richtig. Das war eine Bestätigung für sie. Und Heidi Vock von notfallTraining Schweiz GmbH bemühte sich darum, dass dieser Einsatz für die «Help-Auszeichnung» der Schweizerischen Herzstiftung angemeldet wird. Die Betriebssanitäter gewannen diese Auszeichnung letztlich, wurden ins Charlie-Chaplin-Museum in Vevey eingeladen, durften auf die Bühne und von ihrem Einsatz erzählen. «Das war cool und lustig», sagt Dogi, «aber der Preis war nicht wichtig. Hauptsache, Giorgio hat es überlebt.»

Ende 2015, nach rund drei Monaten, arbeitete Giorgio schon wieder zu 50 Prozent. Im Januar 2016 war er dann wieder voll dabei. «Ich habe Freude an der Arbeit», sagt er. «Aber es gab schon Momente, die schwierig waren. Der Klapf kam aus heiterem Himmel. Ich verstehe es heute noch nicht. Ich hatte riesiges Glück, dass die Betriebssanitäter so gut reagiert haben.»

Wenn es wieder passiert…

Giorgio’s Familie arbeitet schon in der dritten Generation bei Stahl Gerlafingen AG. Und auch sein Vater erlitt im Betrieb einen Herzinfarkt. Leider einen, der nicht so gut endete. «Das war im Jahr 1999», erzählt Giorgio. «Er war 64 Jahre alt. Er fühlte sich nicht gut, machte sich aber anders als ich nicht bemerkbar, sondern setzte sich auf die Treppe beim Rundofen. Irgendwann fand ihn jemand, da war es schon zu spät.»

Den 18. September feiert Giorgio jedes Jahr. Es ist sein zweiter Geburtstag. Angst vor einem weiteren Herzstillstand hat er nicht. «Wenn es passiert, dann passiert es», sagt er. «Ich denke, wenn man sterben muss, ist das ein schöner Tod. Es dauert bloss einen kurzen Moment. Manche Leute besucht man jahrelang im Spital, sie durchleiden Chemotherapien und kämpfen lange, bevor sie gehen dürfen.»

Dogi ist heute Giorgio’s Vorgesetzter. «Wir haben es immer noch gut miteinander», sagt Dogi. «Und wir schauen bis heute gut auf Giorgio. Wir schickten ihn auch schon nach Hause, wenn es ihm nicht so gut ging.» Alfred Wüthrich interessiert es auch laufend, wie es Giorgio geht. «Wir haben ja beigetragen, dass er überhaupt noch da ist. Das ist nie einfach erledigt und abgehakt», sagt er.

Von den drei Lebensrettern ist inzwischen einer verstorben. An einem Herzinfarkt. Er erlitt ihn nachts, zu Hause. Die Betriebssanitäter der Stahl Gerlafingen AG konnten dort nicht helfen. Aber wenn es im Betrieb wiedermal ein solches Ereignis gibt, stehen die Überlebenschancen gut. «Ich hoffe, das passiert nie wieder», sagt Dogi und fügt energisch an: «Aber wenn es wieder passiert, dann machen wir das wieder!»

In Zusammenarbeit mit notfallTraining Schweiz GmbH

 

 

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