Freitag, 20. September 2024
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Nichts ist so beständig wie der Wandel. Das gilt tatsächlich auch in Themen wie Erste Hilfe, Evakuierung und ähnlichem. Wir sprachen mit Andreas Juchli von JDMT Medical Services darüber, mit welchen Veränderungen und Entwicklungen in diesem Jahr zu rechnen ist – zum Beispiel die Zusammenlegung verschiedener Notfallorganisationen zu Emergency Operators.

Andreas Juchli ist Geschäftsführer der JDMT Medical Services AG. Er sieht vor allem eine grosse Herausforderung auf Notfallorganisationen zukommen: die Ressourcenfrage. «Firmen haben immer weniger Ressourcen, um sich organisatorisch um Bereiche wie die betriebliche Erste Hilfe zu kümmern», sagt Juchli. «In grösseren Unternehmen gab es früher mehrere Mitarbeitende, die mit dem Thema betraut waren. Heute ist es häufig nur noch eine Person. Sie soll definieren, wie die Erste Hilfe organisiert wird, soll dies umsetzen und sollte sich am besten auch noch selbst kontrollieren. Das geht nicht mehr auf.»

Das ganze Gespräch können Sie hier lesen oder als Video anschauen:

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Wo genau liegen die Herausforderungen und woher kommen sie?

Andreas Juchli: Unternehmen müssen mit weniger Fachkräften auskommen. Viele Spezialisten in den Bereichen Arbeitssicherheit oder Erste Hilfe haben im Betrieb unterschiedliche Hüte auf und müssen sich um diverse Themen kümmern. Aus diesen Gründen sollte manch eine Organisation überdacht werden. Es gibt alte Zöpfe, die heute eher eine Massnahme sind als eine Wirkung haben. Zwei Beispiele: Ausbildungen werden als Selbstzweck verstanden und es gibt zu viel Erste-Hilfe-Material, das gar nie angewendet und deshalb entschlackt werden kann. Wenn man diesen Blickwinkel und Fokus auf die Wirkung anwendet, merkt man rasch, dass sich viele alte Zöpfe nicht mehr rechtfertigen lassen.

Was kann ein Unternehmen, das sich aktuell in einem Ressourcen-Engpass wiederfindet, denn tun?

Die Frage nach der Wirkung stellt sich genauso rund um die verschiedenen Notfallorganisationen im Betrieb – es gibt sie beispielweise rund um Evakuierungen oder rund um die Erste Hilfe. Aber könnte nicht auch eine einzige Notfallorganisation verschiedene Notfälle bedienen? Auch könnte sich das Modell der Schwarmintelligenz anbieten – also dass man gar keine klassischen Betriebssanitäter:innen hat, sondern dass alle Mitarbeitenden Helfer sind und mit telefonischer Unterstützung von aussen Hilfe leisten können.

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Wie viele Unternehmen haben ihre Notfallorganisationen tatsächlich schon zusammengelegt?

Je komplexer das Unternehmen, beispielsweise mit vielen Niederlassungen und in verschiedenen Sprachregionen – umso eher hat eine solche Entwicklung schon stattgefunden oder die Unternehmen wissen, dass sie das längst machen sollten. Auch in Bereichen, die stärker reguliert sind, ist diese Erkenntnis angekommen. Hier müssen die Notfallorganisationen per se besser, sicherer und effizienter werden – auch kosteneffizienter. Ich kenne kaum mehr ein Unternehmen, in dem mehr als zwei Mitarbeitende mit diesen Themen betraut sind. Sie sind nebenbei für viele weitere Themen zuständig, oft im breiten Feld der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes. Diese Personen müssen sich anders aufstellen, viele wünschen eine Stellvertretung, aber eine solche Stelle wird nicht geschaffen.

Ist das eine langfristige Entwicklung oder ein mittelfristiges Phänomen?

Ich würde behaupten, es verhält sich wie auf einer Skisprung-Schanze: zuerst fährt man langsam los, dann wird man immer schneller. Ich bin überzeugt, dass sich diese Entwicklung noch massiv beschleunigt und nachhaltig bleiben wird.

Natürlich wird es immer noch Unternehmen geben, die ihre Mitarbeitenden ausbilden und auch als Instrument brauchen, um eine Herzmassage anzuwenden oder bei einem generalisierten Krampfanfall den Kopf der Betroffenen vor einem Aufprall zu schützen. Wir haben Kunden, die Mitarbeitende zur Verfügung stellen, um zu handeln. Aber die Entscheidung, welche Handlungen nötig sind und ob man den Rettungsdienst alarmieren sollte, die wollen sie nicht treffen, weil sie keine Fehlentscheide treffen wollen. Das ist verständlich, Medizin ist ein komplexes und anspruchsvolles Thema. Auch deshalb stehen hinter den etablierten Ausbildungsunternehmen im Bereich Erste Hilfe immer Profis aus der Rettung oder aus dem ärztlichen Bereich – weil es das einfach braucht.

Sie wollen aus Betriebssanitätern:innen und Evakuationsleiter:innen nun sogenannte Emergency Operators machen, die in einer einzigen Organisation zusammengefasst werden?

Das ist sicher etwas Neues. Langjährige Kunden haben bis vor Kurzem gesagt, dass sie Evakuierung und Erste Hilfe voneinander trennen wollen, das funktioniere sonst nicht. Nun haben sie festgestellt, dass ihnen dafür schlicht die Leute fehlen. Und sie stellen fest, dass dieses Konzept doch Sinn macht. Wenn es zu einer Evakuierung kommt, werden ohnehin auch die Ersthelfer aktiviert. Das Vorgehen beider Gruppen ist einheitlich, fachlich kann man das durchaus verbinden. Und für viele Betriebe wurde das nun zu einer effizienten Form in Sachen Organisationsaufwand. Egal welcher Notfall eintrifft, die gleiche Organisation stellt sich dem Ereignis entgegen, bis die Blaulichtorganisationen vor Ort sind. Es ist also ein Werkzeug für alle Fälle und das ist äusserst zweckmässig.

Verlangt das auch nach neuen Konzepten oder wendet man dafür die gleichen Konzepte an wie gehabt?

Es braucht schon neue Konzepte. Ausbildungsformate in der Ersten Hilfe sind derzeit mehr auf den Inhalt bezogen und weniger auf die Wirkung ausgerichtet. Wir möchten im Jahr 2024 beispielsweise viel stärker vermitteln, wann eine Reanimation eine gute Reanimation ist. Natürlich, das ist sie vor allem dann, wenn der oder die Betroffene überlebt. Aber sie ist beispielsweise auch dann gut, wenn der Zeitraum ab Alarmierung bis zur Reanimation kleiner wird.

In der Ausbildung wollen wir uns darauf fokussieren, was die Ersthelfer effektiv können. Das ganze Hintergrundwissen im Ereignis können wir durch telefonischen Support einbringen. Ein anderes Beispiel sind Gefahrstoffe. Wie geht man vor, wenn einer austritt – und wann oder wie wird dann evakuiert? Solche Themen muss man in eine Ausbildung reinbringen und die taktische Vorgehensweise mit dem telefonischen Support kombinieren. So bringen wir eine Wirkung bis ins Ziel.

Wie wird man denn nun Emergency Operator?

Das Vorgehen als Ersthelfer, in einem medizinischen Notfall Zeit zu überbrücken, hat sehr viele Parallelen mit dem Vorgehen in anderen Notfällen. Wenn jemand auf der Toilette weint, also ein seelisches Leiden hat, ist das zwar kein klassischer Fall für Betriebssanitäter:innen, aber sie können dennoch aktiviert werden und mit dem gleichen Vorgehen helfen – inklusive Abgrenzung und Distanz sowie passenden Anschlusslösungen.

Auch in einer Evakuation sind sehr viele Aspekte die gleichen: Situation erkennen, Sicherheit gewährleisten, Support anfordern. Das kann man universell in jedem Notfall brauchen, beispielsweise auch im Brandschutz. Das Vorgehen im Team, die unterschiedlichen Rollen, das ist alles nicht neu. Neu ist bloss, dass beispielsweise Betriebssanitäter:innen auch mit anderen Notfällen konfrontiert werden können und der verlängerte Arm von jemandem im Hintergrund sind, der das nötige Fachwissen hat.

… und im Prinzip als Wissensdatenbank fungiert …

Nicht nur das, sondern auch sagt, was man machen soll. Er kann bestätigen, dass die getroffenen Überlegungen richtig sind, erwägen ob an alles gedacht wurde oder auch Situationen lösen, wenn beispielsweise Patienten keinen Rettungsdienst wollen, obwohl die Betriebssanitäter:innen wissen, dass es ihn braucht. Diese Wirkung können wir telefonisch erzielen und den Betroffenen die Notwendigkeit erklären. Sollten die Betroffenen den Rettungsdienst dann immer noch verweigern, sind es nicht die Betriebssanitäter:innen, die sich nicht durchgesetzt haben, sondern sie können sich auf uns und unsere Entscheidung beziehen.

Zum Verständnis: Emergency Operators sind entweder Betriebssanitäter:in oder Evakuationsteam?

Eigentlich müsste man sagen, dass in der Schweiz jeder und jede wissen müsste, was in einem Notfall zu tun ist. Jungs, die im Militär waren, lernen mit Gefahren und kritischen Situationen umzugehen. Das müsste Allgemeinwissen sein. Es ist darum auch schade, dass diese Themen in der Schule immer noch so stiefmütterlich behandelt werden, ganz besonders im Vergleich mit anderen Ländern.

Es gibt aber bestimmt Menschen, die bessere Voraussetzungen für solche Aufgaben haben. Typischerweise sind das solche aus technischen Berufen oder aus der Logistik. Und jene, die häufig vor Ort sind, beispielsweise an der Rezeption. Sie sind am gleichen Standort und nicht im Home-Office. Man muss schauen, wer effektiv vor Ort ist und diese Rolle wahrnehmen kann. Aber man bringt es grundsätzlich mit jeder Person hin, besonders wenn jemand im Hintergrund bei der Entscheidungsfindung hilft.

Wie gross sollte eine solche einheitliche Notfallorganisation sein?

Es geht um die Wirkung. Wenn jemand einen Kreislaufstillstand hat, stellt sich die Frage, wie sich das Unternehmen organisiert hat, um dieser Person nun zu helfen, den Notfall zu erkennen, zu alarmieren und zu schocken. Das ist eine Organisationsfrage und daraus leitet sich die nötige Grösse des Teams ab. In einem Unternehmen mit weniger Standortbindung braucht es allenfalls ein grösseres Team als in anderen Unternehmen. Aber das sollte nicht näher definiert werden, sondern dem Betrieb selbst überlassen bleiben. Ich bin kein Anhänger einer bestimmten Zahl. Wir müssen über die Wirkung und über Interventionszeiten reden.

Was wünschen Sie sich – auch hinsichtlich solcher Entwicklungen – für das Jahr 2024?

Es sollte uns noch viel klarer bewusstwerden: Eine Notfallorganisation ist nichts, was man irgendwie noch so macht. Notfälle sind zwar seltene Ereignisse, aber wenn sie passieren, entscheidet die Organisation über sein oder nicht sein. Ich wünsche mir, dass unsere Ansprechpartner noch mehr sagen: wenn etwas passiert, will ich nicht, dass wir schlecht organisiert sind und Betroffene sterben. Notfälle können eintreffen, und wir können das Ergebnis durch eine gute Organisation günstig beeinflussen. Wir sollten uns deshalb auf die Fahne schreiben, miteinander noch viel stärker zu werden. Wir alle sind geeignete Emergency Operator, weil wir alle mit Notfällen besser umgehen sollten – ob am Arbeitsplatz oder im privaten Bereich.

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Chefredaktor safety-security.ch / CEO bentomedia GmbH / Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Betriebssanität SVBS / SFJ-Award für Qualitäts-Fachjournalismus

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