Donnerstag, 21. November 2024
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Für eine erfolgreiche Evakuierung im Notfall braucht es ein gutes Konzept. Doch erst die regelmässige praktische Erprobung des Konzepts bereitet bestmöglich auf ein Ereignis vor.

Brände, Explosionen, Rohrbrüche, Hochwasser, Erdbeben, Terrorwarnungen – es gibt noch viel mehr Gründe, weshalb ein Gebäude evakuiert werden müsste. Eine solche Evakuierung will erstens genau geplant sein und zweitens natürlich auch regelmässig geübt werden. Denn im Ereignisfall zeigen sich plötzlich ganz unterschiedliche Hürden und Hindernisse: nicht genügend sichere, frei begehbare und gekennzeichnete Fluchtwege zum Beispiel. Oder Material und Leergut, das Fluchtwege und Notausgänge versperrt. Oder verschlossene Notausgangstüren, die keine Flucht ermöglichen.

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Am Anfang steht das Konzept
Ein Evakuierungskonzept gibt es nicht einfach pfannenfertig zu kaufen oder zu übernehmen. Es muss immer die ganz individuelle Ausgangslage berücksichtigen. Die geografische Lage oder die Architektur des Gebäudes sind nur zwei Beispiele dafür. Unter anderem müssen folgende Fragen beantwortet werden:

  • Wie alarmieren wir die Mitarbeitenden?
  • Wo befindet sich der Sammelplatz?
  • Wie sieht die Sammelplatzorganisation aus?
  • Welche Aufgaben haben die Evakuationshelfer?
  • Welches Hilfsmaterial steht ihnen zur Verfügung?
  • Wie funktioniert die Kommunikation zur Firmeneinsatzleitung und zur Feuerwehr, Polizei und Sanität?
  • Ist der Zutritt in alle Bereiche gewährt?
  • Sichern wir das Gebäude anschliessend gegen unbefugten Zutritt?
  • Wie stellen wir sicher, dass das Gebäude wirklich leer ist und die Mitarbeitenden und Gäste in Sicherheit sind?
  • Sind alle Evakuationshelfer und Mitarbeitende entsprechend geschult?

Die Mitarbeitenden müssen wissen, wie sie sich im Ernstfall verhalten sollen. Sie müssen die Notausgänge kennen, die Fluchtwege, die Wasserlöschposten und die Feuerlöscher. Am besten schon ab dem ersten Arbeitstag. Und dieses Wissen muss immer wieder aufgefrischt werden.

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Berg und Tal
Stephan Schelbli, Sicherheitsbeauftragter der TITLIS Bergbahnen, Hotels & Gastronomie, nahm sich genau diesen Fragen an. «Es existierte zwar schon vorher ein Evakuierungskonzept, aber es wurde nicht gelebt», erzählt er. «Die Geschäftsleitung erkannte das und wollte die Sicherheit verbessern.»
Schelbli ist verantwortlich für zwei verschiedene Hotels. Eines steht im Tal, das andere bei der Bergstation Trübsee Titlis. «Das sind ganz andere Ausgangslagen und die Szenarien unterscheiden sich enorm», sagt Schelbli. «Das Hotel Terrace auf dem Talboden erreicht die Feuerwehr in fünf Minuten und in den Personalzimmern wohnen viele Mitarbeitende, die wir im Ereignisfall aufbieten können. Zum Berghotel Trübsee braucht die Feuerwehr eine halbe Stunde und es sind je nach Auslastung nur zwei bis fünf Mitarbeitende vor Ort. Das Grundkonzept ist zwar in beiden Häusern das gleiche, aber die Herausforderungen sind ganz andere. Darauf haben wir die Konzepte angepasst und massgeschneidert.»

Üben, üben, üben
Steht ein Konzept, ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende. Jetzt muss sich der Sicherheitsbeauftragte (SiBe) an die Planung einer Evakuierungsübung machen. «Nun ist es wichtig zu wissen, ob es im Betrieb kritische Prozesse gibt, die nur schwer unterbrochen werden können», sagt Roman Müller, Geschäftsführer der MPS Müller Projects & Services GmbH. «Oder ob sich solche Unterbrüche dann als sehr teuer erweisen. Eine Koordination ist unumgänglich.» Ausserdem muss sich der SiBe mit der Alarmzentrale austauschen und die Nummern von allfälligen Brandmeldeanlagen mitteilen. Polizei und Feuerwehr muss er ebenfalls informieren. «Aufmerksame Nachbarn können nämlich mit einer gut gemeinten Alarmierung den Ablauf durcheinanderbringen», weiss Müller aus Erfahrung. «Es werden fälschlicherweise weitere Notfalldienste aufgeboten, die für die Übung gar nicht vorgesehen waren. Das kostet Geld. Diese Informationen müssen zwingend kurz vor der Evakuierungsübung erfolgen. Die Erfahrung zeigte, dass eine Anmeldung mehrere Tage oder Wochen im Voraus nicht immer durchgängig funktioniert.»

Zusatznutzen schaffen
Hat der SiBe solche Fragen geklärt und diese Aufgaben ausgeführt, gilt es tiefer in die Details zu gehen. «Nun kann er auch damit beginnen, die Evakuierungsübung für weitere Tests und Proben zu nutzen», sagt Müller. «Wird sie über die Brandmeldeanlage ausgelöst, wäre dies ein idealer Zeitpunkt, um die Funktion der Brandschutzeinrichtungen zu kontrollieren.» Auch könnten während einer solchen Übung kleinere Verletzungen vorkommen. Die Betriebssanität gehört deshalb – mit ihrem Material ausgerüstet – gut sichtbar auf den Sammelplatz. Dabei kann sie den Bestand von Defibrillatoren, Leuchtwesten oder Erste-Hilfe-Rucksack prüfen. «Zu berücksichtigen sind zudem Umwelteinflüsse wie Kälte, Regen, Sturm, Schneefall oder Hitze. Sie können eine Versammlung im Freien erschweren. Es braucht einen Ausweichplan – die Rückfallebene – für solche Situationen», sagt Müller.
In einem Ernstfall erscheinen früher oder später auch die Medien am Schauplatz. Der Umgang mit Journalisten gehört unbedingt ins Konzept. Grundsätzlich gilt für die Mitarbeitenden, keinerlei Informationen abzugeben. «Idealerweise kann diese Versammlung dazu benutzt werden, eine persönliche Information oder Stellungnahme der Geschäftsleitung an die Mitarbeitenden zu platzieren», sagt Müller. Nutzt ein CEO dies beispielsweise, um auf den hohen Stellenwert der Sicherheit in seinem Betrieb hinzuweisen, gibt das für jeden engagierten SiBe viel Rückenwind. Denn ohne den Rückhalt und das Risikobewusstsein der Geschäftsleitung ist die Akzeptanz solcher Aktionen auch unter den Mitarbeitenden oft gering.»

Auswertung schafft Mehrwerte
Stephan Schelbli schult seine Mitarbeitenden regelmässig und führt in jedem Gebäude jedes Jahr eine Evakuierungsübung durch, in die er auch die Interventionskräfte einbezieht. Grosse Überraschungen habe es dabei noch nie gegeben. «Das zeigt uns, dass unser Konzept gut durchdacht ist», sagt er. Die Resultate der Übungen werter er aus und bespricht sie mit den Kaderleuten, zum Beispiel dem Chef de Service, dem Rezeptionsleiter, der Chefin Housekeeping und natürlich mit dem Hoteldirektor. «Ohne eine genaue Auswertung hat eine solche Evakuierungsübung wenig Wert», bestätigt Roman Müller. «Zur Analyse eignen sich Fotos, Videoaufnahmen, Journale und ähnliches. Daraus folgende Massnahmen sind selbstverständlich.» Der Sibe muss die involvierten Mitarbeitenden beurteilen. Verfügen Notfallteam, Einsatzleiter oder Notfallstab nicht über die nötigen Fähigkeiten, können strategisch wichtige Entscheidungen natürlich nur teilweise durch ein gutes Konzept aufgefangen werden. Es braucht also eine übergreifende Betrachtung: Notfall- und Führungsstäbe müssen unbedingt zusammenarbeiten.

Einfacher ist meistens mehr
«Grundsätzlich lassen sich Evakuierungsübungen immer weiter steigern und die verschiedensten Zusatzfunktionen einbinden – von einer normalen Evakuierung über erschwerte Umstände wie Stromausfall oder Wetterbedingungen bis hin zum Krisenmanagement und zu Aufgaben des Business Continuity Managements», sagt Müller. «Zuerst sollten aber die einfachen Grundaufgaben gelöst werden und dies auf einer möglichst einfachen Ebene. Einfacher ist meistens mehr.»
‘Einfacher ist mehr’ gilt auch, wenn es um die Sprachen geht. «Es gibt viele Mitarbeitende, die kein Deutsch sprechen», sagt Schelbli. «Ihnen ein deutschsprachiges Konzept in die Hand zu drücken, macht wenig Sinn. Wir schulen sie mündlich und erstellten ein stark vereinfachtes Konzept in Englisch. Und wir bauten eine Evak-Anlage ein, mit der wir über die Telefone im Hotel informieren können. Dafür nahmen wir unter anderem auch eine Ansage in Chinesisch auf», sagt er.
Genauso vielfältig wie die Sprachen sind die Gäste: es gibt sie in jedem Alter und in jeder körperlichen und psychischen Verfassung, es treffen unterschiedlichste Kulturen und Lebensgeschichten aufeinander. Doch möchten sie sich als Gäste fühlen und Ferien machen. Sie lassen sich also schlecht in Evakuierungsübungen miteinbeziehen. Umso wichtiger ist es, die Mitarbeitenden auf das Verhalten der Gäste einzustellen.

Hilfe holen
Das alles kann man natürlich im Alleingang machen. Häufig lohnt es sich jedoch, Unterstützung von erfahrenen Experten zu holen. Als sich Stephan Schelbli mit dem Thema Evakuierungen zu beschäftigen begann, war er ganz neu im Job. Er evaluierte drei Firmen, die ihn dabei unterstützen könnten, und wählte ein Unternehmen aus. «Wir produzierten viel Papier, kümmerten uns um die Theorie, aber wir kamen nicht zu einer Lösung», erinnert er sich. «Es funktionierte einfach nicht.» Er wechselte den Anbieter und fand jemanden, der schnell und übersichtlich arbeitete und sich auf das Wesentliche konzentrierte. «Das Wichtigste aber war, dass wir die gleiche Sprache sprachen, die Chemie stimmte und wir schnell eine Vertrauensbasis aufbauen konnten. Das ist für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ganz zentral», sagt Schelbli.

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Chefredaktor safety-security.ch / CEO bentomedia GmbH / Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Betriebssanität SVBS / SFJ-Award für Qualitäts-Fachjournalismus

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