Freitag, 20. September 2024
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Der japanische Staat trägt eine Mitschuld an der Nuklear-Katastrophe von Fukushima – so das aktuelle Urteil eines japanischen Bezirksgerichtes. Das Unglück wäre vermeidbar gewesen, wenn der Staat die Betrieberfirma des Atomkraftwerkes zu Schutzvorkehrungen gegen Tsunamis verpflichtet hätte.

Das Urteil macht einen sechs Jahre alten Artikel aus der Feder unseres Chefredaktors wieder sehr aktuell. Denn: Ob Staat oder nicht, ein gutes Business Continuity Management hätte das Ausmass der Katastrophe massiv einschränken können.

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Hier der Artikel:

 

Das Undenkbare

Seit dem 11. März 2011 kennt die Welt mindestens einen Namen eines japanischenAtomkraftwerks: Fukushima. Es hätte auch anders kommen können.

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Um 14.46 Uhr Ortszeit bebt in 24 Kilometern Tiefe im Pazifischen Ozean die Erde – rund 130 Kilometer vor der Küste Japans und mit einer Stärke von 9,0 auf der Richterskala. Es ist das viertschwerste registrierte Beben aller Zeiten. Drei Minuten später wird ein Tsunamialarm ausgelöst. Japan kennt Erdbeben und Tsunamis gut. Und das Land reagiert schnel . Nach vier Minuten trifft der Krisenstab bereits zusammen.
Auch im Atomkraftwerk (AKW) Fukushima weiss man um die Gefahren. Das AKW ist deshalb erdbebensicher gebaut, bis zu einer Stärke von 8,2 auf der Richterskala. Nach dem Beben fällt im Norden Japans der Strom aus. Die Reaktoren in Fukushima sind weitgehend unbeschädigt und schalten sich automatisch aus, wie es in diesem Fall vorgesehen ist. Die Diesel-Notstromgeneratoren laufen an.
Um 15.41 Uhr trifft der Tsunami auf die japanische Küste. Er ist zehn bis fünfzehn Meter hoch, an den höchsten Stellen sogar 23 Meter. Wie hoch sich das Wasser in Fukushima auftürmt, weiss man nicht genau. Es sind jedenfalls mehr als 6,5 Meter, denn auf einen Tsunami dieser Höhe wäre das AKW Fukushima auch vorbereitet gewesen. Das direkt am Meer gebaute Kernkraftwerk wird von der Welle getroffen.
Dann reissen alle Stricke. Der Tsunami setzt die Notstromgeneratoren unter Wasser. Es kommt zum Blackout, und Strom ist nur noch über Batterien verfügbar. Die Batterie in Reaktor 1 ist bereits um 16.36 Uhr leer. Später gelieferte Ersatzgeneratoren haben kein passendes Anschlusskabel. Ohne Strom geraten Kühlung und Druckausgleich ausser Kontrolle. Es kommt zu Explosionen und zu einer partiellen Kernschmelze, radioaktive Stoffe gelangen via Luft und Wasser in die Umwelt.
Bei Redaktionsschluss waren die Arbeiten am AKW noch immer in Gang. Die Betreiber vermeldeten, es würde mindestens noch ein halbes Jahr dauern, bis die Lage unter Kontrolle sei. Die Evakuierungszone soll allenfalls dauerhaft gesperrt bleiben. Wie in Tschernobyl.

Risiko
Im Rahmen des Risikomanagements dachten die Betreiber des AKW an einzelne Gefahren wie Erdbeben und Tsunamis und trafen Vorkehrungen. Notstromgeneratoren waren vorhanden, man war auf einen Stromausfall vorbereitet. Allerdings dachte man nicht an eine Verkettung von Ereignissen. Zwei ehemalige Konstrukteure des Betreibers Tepco meldeten sich an einer Pressekonferen einer atomkritischen Organisation zu Wort und kritisierten, beim Bau von Fukushima I seien viele Sicherheitssysteme ungenügend dimensioniert worden. Der Ingenieur Masashi Goto sagte, mehrere Teile der Anlage seien nicht für ein Szenario ausgelegt worden, wie es eingetreten ist. So vermochte das Containment nur die Hälfte des Drucks auszuhalten, und die Abluftrohre, mit deren Hilfe Dampf abgelassen wurde, seien möglicherweise zu klein. Erdbebenprognosen seien schlicht zu optimistisch gewesen. Toshiba-Ingenieur Shiro Oguro sagte sogar, ein Tsunami sei im Sicherheitskonzept nicht berücksichtigt worden. So sei nicht einkalkuliert worden, dass die Notstromversorgung vor einer Flutwelle ungenügend geschützt wäre.
Trotzdem: Tepco wusste um die Gefahren von Tsunamis und verschärfte im Jahr 2006 die Sicherheitsrichtlinien. So wurde formuliert, dass die AKW sehr hohen Tsunamis standhalten müssten. Anscheinend stand Fukushima kurz vor einer entsprechenden Überprüfung, als sich die Katastrophe ereignete.

Restrisiko
Ziel des Risikomanagements ist es aber auch, ein definiertes Restrisiko bewusst zu akzeptieren. Schliesslich gibt es keine hundertprozentige Sicherheit und ab einem gewissen Punkt sind minime Verbesserungen nur noch durch immense Kosten zu erreichen. Matthias Hämmerle ist Business Continuity Manager der deutschen Helaba (Landesbank Hessen-Thüringen), Dozent für BCM an der Frankfurt School of Finance Management und betreibt die Internetseite bcm-news.de. Er sieht ein Hauptproblem in genau dieser Bewertung des Restrisikos: «Die Welt ist doch einiges komplexer als wir uns das wünschen. Sogenannte Schwarze Schwäne – also jene Ereignisse, an die man nicht glaubt, bis sie doch eintreffen – werden bislang völlig ausgeblendet.»
Dabei sind sie häufiger als man denken könnte: Die Internetblase, 9/11, der Tsunami im Indischen Ozean, der Hurrikan Katrina, die Finanzmarktrise, das Swissair-Grounding und auch die Ereignisse in Japan dürfen als Schwarze Schwäne bezeichnet werden. Sie alle geschahen im aktuellen Jahrhundert. «Jedes Mal konnten die Dimensionen vorgängig nicht erkannt werden», erläutert Hämmerle, «einen Fall wie 9/11 gab es vorher noch nie. Viele dieser Risiken haben eine Eintretenswahrscheinlichkeit von einem Mal in hundert oder gar tausend Jahren. Trotzdem ereignen sie sich. Deshalb würde es Sinn machen, wir würden uns bei der Betrachtung des Restrisikos weniger auf die Wahrscheinlichkeit des Eintretens, sondern mehr auf das Ausmass eines entsprechenden Schadens fokussieren.»
In diese Richtung stösst auch Uwe Müller-Gauss. Er ist Unternehmensberater mit den Schwerpunktthemen Sicherheit, Risiko-, Krisen- und Kontinuitätsmanagement sowie Pandemievorsorge. «Sich auf die Eintretenswahrscheinlichkeit zu fokussieren ist sinnlos», sagt Müller-Gauss, «weil Jahrtausendereignisse wortwörtlich nicht alle Jahre geschehen. In einer solchen Risikomatrix (Eintretenswahrscheinlichkeit multipliziert mit Schadensausmass) wird ein Nuklearunfall unter Umständen gleich hoch bewertet wie das Risiko eines Laptopverlusts. Diese Information nützt also nicht viel.» Es stellt sich die Frage nach der Tragbarkeit allfälliger Schäden. «Das Restrisiko darf einem Unternehmen nicht den Rest geben», sagt Müller-Gauss.

Business Continuity Management
Es kann also vorkommen, dass getroffene Massnahmen nicht ausreichen. In Fukushima war das Erdbeben zu stark (obwohl es vermutlich keine Schäden am AKW verursachte), der Tsunami zu hoch und die Notstromgeneratoren standen deshalb unter Wasser. In solchen Fällen braucht es einen Plan B. Der Plan B ist das Business Continuity Management (BCM). Wie der Name schon sagt, befasst es sich mit der Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes, wenn ein bestimmtes Ereignis trotz Vorsorge eintrifft. Es beginnt mit einer Business Impact Analyse (BIA). Das heisst, die kritischen Aktivitäten und Prozesse eines Unternehmens werden ermittelt. Diese Analyse ist das Rückgrat des BCM, die Resultate beeinflussen sämtliche daraus abgeleiteten Strategien.
In einem Atomkraftwerk liegt einer der kritischsen Punkte ironischerweise in der Stromversorgung. Ein AKW muss auf jeden Fall Zugang zu Elektrizität haben, um die Prozesse kontrollieren zu können. «Hier geschahen in Fukushima ganz grobe Fehler», sagt Hämmerle, «und zwar ganz klassische Fehler. Die Stromversorgung ist elementar und muss unbedingt gesichert sein. Neben sicheren Notstromgeneratoren müssen weitere Notfallmöglichkeiten mit einbezogen werden.» Die Lage des AKW an der Küste müsse jemanden auf den Gedanken bringen, dass Wasser die Generatoren beschädigen könnte.
Hämmerle vergleicht die Anforderungen mit denen eines Flugzeuges: «Auch wenn ein Unfall dort viel weniger Menschen betrifft, sind alle Systeme teils mehrfach redundant. Sogar die entsprechende Software ist in diesen Systemen jeweils eine andere, damit allfällige Softwarefehler keine Rolle spielen. Die Technologien sind also bekannt und können auf andere High-Risk-Branchen übertragen werden. Gerade auch in Pharma- oder Nahrungsmittelindustrien werden viele Szenarien vorbereitet, die Vorsorgekosten sind dort meistens sekundär.»
Die Verkettung der Ereignisse am 11. März 2011 hätte durchgespielt werden können. Erdbeben ereignen sich in der Region sehr häufig. Ein sauberes BCM hätte sich mit der Frage befasst, was bei einem Erdbeben mit einer Stärke oberhalb der vorgesehenen 8,2 auf der Richterskala geschehen würde: Zum Beispiel Gebäudeschäden und ein möglicher Tsunami. Sollte dieser Tsunami nun höher sein, als die 6,5 Meter des Schutzdamms, trifft er auf ein allenfalls bereits beschädigtes AKW. Dass Notstromgeneratoren in diesem Fall unter Wasser stehen könnten, ist naheliegend. Würden sie in einem wasserdichten Raum stehen, würden sie funktionieren. Und selbst wenn man sie nicht wasserdicht halten kann: Der Gedanke, dass eine alternative Stromzufuhr von aussen sichergestellt werden sollte – zum Beispiel durch vorverlegte und schnell anschliessbare Notkabel – wäre ebenfalls nicht mehr weit. Schliesslich handelt es sich in der Stromversorgung um einen der kritischsten Punkte in einem AKW.
Der Betreiber des AKW Fukushima scheint sich aber nicht mit einem Plan B befasst zu haben. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, Yukiya Amano, macht deshalb Tepco und nicht eine höhere Gewalt für die Katastrophe verantwortlich: «Die Sicherheitsmassnahmen, die der Betreiber ergriffen hat, waren im Nachhinein betrachtet nicht ausreichend, um den Unfall zu verhindern.»

Zeitgemässes BCM
«Aufgrund der Vergangenheit plant man die Zukunft», weiss Müller-Gauss, «das schlimmste Bisherige dient uns als Massstab. Wir treffen Massnahmen gegen uns bekannte Bedrohungen. Viel gefährlicher ist aber das Unbekannte. Das nächste Mal könnte es ein Terrorist sein, da gibt es genug Möglichkeiten. Vielleicht stürzt auch ein Passagierflugzeug auf ein AKW.» Der Stahlbehälter im Reaktor muss gemäss den Sicherheitsvorschriften zwar einen Tornadoabsturz aushalten können, wie das bei einem Passagierflugzeug ist, weiss man allerdings nicht. Es könnte auch einfach die Stromverbindung oder die Kühlung zerstört werden und daraus ein Problem entstehen.
Müller-Gauss sieht viele potenzielle Gefahren, und viele seien schwer zu bewältigen. «Vielleicht ist es wieder ein Atomunfall, vielleicht wird es aber auch eine Pandemie, multiresistente Keime, soziale Unruhen oder veränderte Umweltbedingungen mit massiven Menschenwanderungen – oder Vulkanausbrüche.» Tatsächlich stehen uns wohl einige grosse Vulkanausbrüche bevor. Auf einen Ausbruch des isländischen Eyiafiallajökull (2010) folgt normalerweise ein viel grösserer Ausbruch des viel mächtigeren benachbarten Katla. Riesige Mengen Asche könnten in die Stratosphäre gelangen. Die Erde verdunkelt sich und wird kalt, ein vulkanischer Winter, der lange dauern kann. Auch der Yellowstone, ein Vulkan gigantischen Ausmasses, zeigt in den letzten Jahren eine erhöhte Aktivität und könnte ausbrechen. Zwei Drittel der USA würden unbewohnbar.
Ein sauberes BCM sollte solche Szenarien durchdenken.

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Chefredaktor safety-security.ch / CEO bentomedia GmbH / Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Betriebssanität SVBS / SFJ-Award für Qualitäts-Fachjournalismus

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