Freitag, 20. September 2024
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Frauen und Männer haben eine unterschiedlich hohe Lebenserwartung bei Geburt. Frauen leben im Durchschnitt vier Jahre länger, ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität ist jedoch weniger gut. Zahlreiche Ergebnisse der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) deuten auf Unterschiede in der Gesundheit von Frauen und Männern hin.

Aus verschiedenen Studien geht hervor, dass die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten weitgehend durch gesellschaftliche Normen wie Geschlechterrollen und -beziehungen geprägt und beeinflusst werden. Eine geschlechtsspezifische Analyse der Gesundheit fördert das Verständnis der gesundheitlichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern und ermöglicht es, auf dieser Basis spezifische Präventions- und Gesundheitsförderungsstrategien zu entwickeln, die der Gesellschaft als Ganzes zugutekommen.

Zwischen Frauen und Männern gibt es gesundheitliche Unterschiede, die sich nicht rein biologisch erklären lassen. Die Integration der sozialen Dimension des Geschlechts – der Genderdimension – in die Gesundheitsanalyse ermöglicht ein tieferes Verständnis der Gesundheit einer Bevölkerung. Sie gibt Aufschluss darüber, wie wechselseitig wirksame soziale und biologische Prozesse zu gesundheitlichen Unterschieden führen können.

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Ergebnisse aus der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2017

In diesem Artikel wird Gesundheit aus der Perspektive des Geschlechts betrachtet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Untersuchung der sozialen Faktoren, die sich unterschiedlich auf die Gesundheit von Frauen und Männern auswirken können. Die Publikation stützt sich auf ausgewählte Ergebnisse der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) und auf die einschlägige Literatur zum Thema Geschlecht und Gesundheit.

Gesundheit: biologisches Geschlecht und soziales Geschlecht

Biologische Unterschiede geben Aufschluss darüber, weshalb Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen in einem höheren Alter auftreten als bei Männern: Frauen geniessen bis zur Menopause einen gewissen hormonellen Schutz. Biologische Faktoren liefern jedoch keine Erklärung dafür, weshalb Männer bis vor kurzem ein höheres Risiko hatten, an Lungenkrebs zu erkranken, und weshalb Frauen gegenüber den Männern mittlerweile deutlich aufholen. Um diese Unterschiede zu erklären, muss das Konzept des sozialen Geschlechts herangezogen werden (Doyal, 2003), das begreifbar macht, wie soziale Normen zunächst dem Rauchen der Männer und später dem Rauchen der Frauen Vorschub leisteten.

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Das soziale Geschlecht entpuppt sich damit als ein zentrales Konzept für das Verständnis von Gesundheit: Unterschiede zwischen Frauen und Männern in allen sozialen Sphären prägen den Körper, sind in den Körper eingeschrieben (Embodiment) und gehen aus den epidemiologischen Daten, wie sie die SGB liefert, hervor. Das soziale Geschlecht stellt somit eine Grundkategorie für das Verständnis einer Gesellschaft dar: Es strukturiert alle Bereiche des sozialen Lebens und berührt folglich grundlegende Aspekte von Macht, Hierarchien, Klassifizierungen und Identitäten, sei es in Unternehmen, Familien oder im öffentlichen Raum.

So konstruiert das Geschlechtersystem die Geschlechtsidentitäten, die neben biologischen und anatomischen Unterschieden eine Gesamtheit von Lebens-, Handlungs- und Denkweisen beinhalten, die Frauen und Männer seit ihrer Geburt durch die Sozialisation, d.h. durch soziale Riten, Familie, Schule und Kultur verinnerlicht haben. Historisch gesehen ist das Geschlecht ein dynamisches und wandelbares System: Die Geschlechternormen ändern sich im Laufe der Zeit und je nach Lebensphase einer Person.

Biologisches Geschlecht und soziales Geschlecht

Das biologische Geschlecht (sex) bezieht sich auf die biologischen Merkmale, die Frau und Mann unterscheiden: Genitalien, Chromosomen, Hormone. Das soziale Geschlecht (gender) bezieht sich auf die unterschiedliche soziale Stellung von Frauen und Männern in der Gesellschaft, die Bereiche wie Arbeit (Erwerbsarbeit sowie unbezahlte Haus- und Familienarbeit), Bildung und Freizeit strukturiert. Mit anderen Worten: Genderunterschiede entsprechen den unterschiedlichen Rollen und Verhaltensweisen, die durch die Normen und Werte der Gesellschaft geprägt sind, in der die Menschen leben.

Wir verwenden hier den Begriff Geschlecht (bzw. Gender) für die binäre Kategorisierung nach Frauen und Männern, da mit den Daten der SGB keine andere Geschlechterzuord-nung möglich ist.

Gesundheit aus einer Genderperspektive zu betrachten, mag im ersten Moment befremden: Gesundheit scheint primär im Körper verortet zu sein, weshalb der Fokus implizit auf dem Biologischen und den als natürlich empfundenen Unterschieden zwischen Frauen und Männern liegt. Der Aufschwung der Neurowissenschaften und der nach wie vor starke Einfluss des biomedizinischen Modells im Gesundheitsbereich bekräftigen dieses Verständnis.

Die Integration des Genderkonzepts in die Gesundheit führt gleichwohl zu einem besseren Verständnis der wechselseitig wirksamen biologischen und sozialen Prozesse, die die Gesundheitsverläufe von Frauen und Männern beeinflussen. Im Public-Health-Kontext ermöglicht sie eine bessere medizinische Versorgung entsprechend den geschlechtsspezifischen Besonderheiten (z.B. bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen), ohne Geschlechterstereotype zu bedienen. Dadurch trägt sie zum Abbau gesundheitlicher Ungleichheit bei. Präventions- und Gesundheitsförderungsaktivitäten können besser ausgerichtet werden mit dem Ziel, eine gute Gesundheit der Frauen und Männer zu fördern.

Das Geschlecht als soziale Gesundheitsdeterminante

Das Konzept der «sozialen Determinanten der Gesundheit» geht zurück auf die 1980er-Jahre und hat sich mit der Einberufung der WHO-Kommission für soziale Determinanten der Gesundheit im Jahr 2005 breit durchgesetzt. Diesem Konzept zufolge «haben die Merkmale einer Gesellschaft – Wohnverhältnisse, Bildungsstand, Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung usw. – einen grossen Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung und die Krankheitsrisiken ihrer einzelnen Mitglieder» (Marmot, 2019). Als ein Organisationsprinzip des sozialen Zusammenlebens beeinflusst das Geschlecht die Gesundheit in gleicher Weise wie andere soziale Merkmale (Bildung, Einkommen, Beschäftigung, Familie, Herkunft usw.). So gesehen ist das Geschlecht eine soziale Determinante, die gesundheitliche Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern schafft.

Die Zunahme der Frauenerwerbsbeteiligung in der Schweiz ab den 1970er-Jahren geht hauptsächlich auf das Konto der Teilzeitarbeit. Im Jahr 2017 arbeiteten 59,6 Prozent der erwerbstätigen Frauen im Alter von 25 bis 54 Jahren Teilzeit, gegenüber 13,4 Prozent der Männer (BFS, 2020). Die Teilzeiterwerbstätigkeit, die mit der Verteilung der Haus- und Familienarbeit und der Betreuung abhängiger Personen zusammenhängt, wirkt sich auf das Einkommen, die Aufstiegs- und Karrierechancen und damit auf die soziale Stellung aus.

Dass Einkommensunterschiede im Allgemeinen einen Einfluss auf die Gesundheit haben, ist heute unbestritten. Dabei gilt, dass Personen mit niedrigem Einkommen einen schlechteren Gesundheitszustand aufweisen als Personen mit höherem Einkommen. Und auch wenn sich die Geschlechternormen in der Schweiz allmählich ändern und sich junge Männer vermehrt an der Haus- und Familienarbeit beteiligen, so fallen die generell beobachteten Merkmale der geschlechtshierarchischen Beziehungen in vielen Bereichen mehrheitlich noch immer zu Ungunsten der Frauen aus.

Das soziale Geschlecht ist folglich eine Gesundheitsdeterminante, die es in Verbindung mit anderen sozialen Determinanten wie sozioökonomischem Status, Alter, ethnischer Zugehörigkeit usw. in einer intersektionalen Perspektive zu betrachten gilt, um dieses Zusammenwirken verschiedener Merkmale zu beschreiben.

Intersektionalität

Mit Intersektionalität ist die Berücksichtigung der Gleichzeitigkeit und Überschneidung verschiedener sozialer Gesundheitsdeterminanten gemeint. Das Konzept der Intersektionalität verweist auf die Tatsache, dass Frauen und Männer keine homogenen Gruppen sind und dass die soziale Stellung einer Person durch das Zusammenspiel weiterer, benachteiligender oder privilegierender Faktoren wie Alter, ethnischer Zugehörigkeit oder sozialer Klasse determiniert wird.

Das Geschlecht beeinflusst die soziale Situation, die Lebensverhältnisse, die Lebensläufe und das Gesundheitsverhalten, die zusammen einen Einfluss auf die Gesundheit haben. Der Einfluss des Geschlechts auf die Gesundheit ist also sehr vielfältig und muss in seiner Vielfältigkeit verstanden werden: in seinem Zusammenhang mit weiteren Faktoren (Alter, ethnische Zugehörigkeit), in seiner Wechselwirkung mit anderen Determinanten (sozioökonomischer Status) und in seinem Wandel im Laufe des Lebens.

Allgemeiner Gesundheitszustand

Frauen und Männer haben eine unterschiedlich hohe Lebenserwartung bei Geburt. Frauen in der Schweiz leben im Durchschnitt vier Jahre länger. Dabei gelten zwei Einschränkungen: Frauen leben zwar länger als Männer, aber dies bei einer allgemein weniger guten Gesundheit, und der Unterschied der Lebenserwartung bei Geburt verringert sich im Laufe der Jahre (G1). In der Tat hat sich seit den 1990er-Jahren die Lebensweise der Frauen jener der Männer angenähert, im Erwerbsbereich (Erwerbsquote, Beschäftigungsspektrum) wie auch in Bezug auf das Rauchen und den Alkoholkonsum. Erklärend kommen auch die rascheren Fortschritte bei Krankheiten, die früher vor allem Männer betrafen, dazu (z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen).

Der klare Vorteil der Frauen bezüglich der Lebenserwartung bei Geburt wird abgeschwächt, wenn nach der Lebensqualität, insbesondere nach den allgemeinen gesundheitlichen Beschwerden und den funktionellen Einschränkungen gefragt wird. Diese treten bei Frauen im Allgemeinen häufiger auf und können die persönliche Autonomie einschränken. So wird die höhere Lebenserwartung bei Geburt für Frauen durch die Lebenserwartung bei guter Gesundheit relativiert. Diese beträgt bei den Frauen 71,7 Jahre und bei den Männern 70,7 Jahre. Diese geringere Differenz zwischen den Geschlechtern zeigt, dass die Frauen die zusätzlichen Lebensjahre zu einem grossen Teil mit gesundheitlichen Beschwerden verbringen.

91 Prozent der Schweizer Bevölkerung bezeichnen ihre Lebensqualität als gut bis sehr gut, ohne signifikante Unterschiede zwischen Frauen und Männern, selbst unter Berücksichtigung des Bildungsstands und des Alters. Frauen schätzen ihren Gesundheitszustand jedoch als weniger gut ein als Männer: Sie berichten häufiger über dauerhafte Gesundheitsprobleme, über Einschränkungen im Alltag seit mindestens sechs Monaten, und darüber, dass sie mit mindestens einer chronischen Krankheit leben (T1).

Frauen sind seltener der Auffassung, dass sie über eine hohe Energie und Vitalität verfügen, was sowohl ein physisches (Müdigkeit usw.) als auch ein psychisches (Stimmung usw.) Befinden ausdrückt. Sie berichten auch häufiger als Männer über ein allgemeines Schwächegefühl, und der Unterschied zwischen Männern und Frauen ist hier ausgeprägter als bei den anderen beschriebenen Gesundheitsaspekten.

Indikatoren der allgemeinen Gesundheit, 2017T1

Bevölkerung ab 15 Jahren in Privathaushalten

Männer Frauen
% ± % ±
(Sehr) gute Lebensqualität 92 0,6 91,5 0,6
Dauerhaftes Gesundheitsproblem 30,5 1,1 34,7 1,0
Einschränkungen seit mindestens
6 Monaten
22,3 0,9 28 1,0
Mindestens 1 chronische Krankheit 37,3 1,1 47,2 1,1
Hohe Energie und Vitalität 53,7 1,3 43,7 1,2
Allgemeine Schwäche 33,3 1,1 49,5 1,1
Mittlere oder pathologische
Schlafstörungen
26,1 1,1 32,3 1,1
Einschlaf- oder Durchschlafstörungen 28 1,0 40,4 1,0
Sehr nervös (manchmal, meistens, immer) 20,5 0,9 28,9 1,0
Geringe Kontrollüberzeugung 21,9 1,1 24,8 1,0
Einsamkeitsgefühl (manchmal,
ziemlich häufig, sehr häufig)
31,5 1,1 41,5 1,1
Mittlere bis schwere Depression 7,8 0,7 9,5 0,7
Mittlere oder hohe psychische Belastung 11,7 0,8 18,3 0,8

± Vertrauensintervall (95%)

Quelle: BFS – Schweizerische Gesundheitsbefragung (SGB)

Weitere Indikatoren (T1) weisen auf geschlechtsspezifische Differenzen im gesundheitlichen Befinden hin, zum Beispiel in Bezug auf die Schlafqualität und die psychische Gesundheit.

Frauen jeden Alters berichten häufiger über mittlere oder pathologische Schlafstörungen als Männer. Sie leiden auch häufiger unter Einschlafschwierigkeiten und Schlaflosigkeit. Frauen aller Alters- und Bildungsstufen geben häufiger an, (manchmal, meistens oder immer) sehr nervös zu sein.

Frauen weisen eine geringere Kontrollüberzeugung auf, das heisst sie haben eher das Gefühl, nicht selbst über ihr Leben bestimmen zu können. Die Kontrollüberzeugung ist eine wichtige Ressource, um Alltagsprobleme und Krisen bewältigen zu können, und wird mit einer guten gesundheitlichen Verfassung in Verbindung gebracht. Umgekehrt sind Menschen, die das Gefühl haben, dass sie keinerlei Einfluss auf die Ereignisse haben und dass ihr Leben weitgehend durch externe Faktoren gesteuert wird, anfälliger für depressive Verstimmungen.

Frauen leiden häufiger unter Einsamkeitsgefühlen als Männer, und dies über alle Altersgruppen und Bildungsstufen hinweg. Männer, die nichterwerbstätig oder erwerbslos sind, berichten jedoch ebenso häufig über Einsamkeitsgefühle wie nichterwerbstätige Frauen. Einsamkeit ist der subjektive Ausdruck eines Mangels an sozialen Ressourcen oder eines Bedürfnisses nach zusätzlichen sozialen Kontakten. Sie entsteht beispielsweise, wenn die gewünschten Beziehungen nicht der Realität entsprechen. Schliesslich berichten mehr Frauen über mittlere oder hohe psychische Belastung als Männer. Frauen leiden nach eigenen Angaben auch häufiger unter mittlerer bis schwerer Depression, die oft mit erheblichem Leiden und anderen, physischen und psychischen Krankheiten verbunden ist.

Diese verschiedenen Informationen zur allgemeinen Gesundheit beziehen sich auf ein Gesundheitsempfinden, über das Einzelpersonen im Rahmen einer Bevölkerungsbefragung berichteten. Es handelt sich somit nicht um den medizinisch diagnostizierten Gesundheitszustand. Der selbst wahrgenommene Gesundheitszustand gilt jedoch als guter Indikator für den allgemeinen Gesundheitszustand einer Bevölkerung, weil er Ausdruck einer subjektiven Einschätzung aufgrund täglich wahrgenommener und erlebter Symptome ist, was die betreffenden Personen zu Expertinnen und Experten für ihre Gesundheit und ihren Körper macht.

Die oben erwähnten Unterschiede in der Gesundheit von Frauen und Männern lassen sich zum Teil durch eine andere Einstellung gegenüber der Gesundheit erklären, die eine Folge seit der Kindheit verinnerlichter sozialer Normen ist und daher die Wahrnehmung, Interpretation und Äusserung von Gesundheitsproblemen beeinflusst.

Biologische und soziale Erklärungsfaktoren

Diese allgemeinen gesundheitlichen Differenzen zwischen Frauen und Männern sind besser zu verstehen, wenn das Zusammenspiel von biologischen und sozialen Aspekten berücksichtigt wird. Frauen und Männer weisen bei der Geburt unterschiedliche biologische Merkmale auf. Im Laufe ihres Lebens entwickeln sie ihre eigene psychologische und soziale Identität, entsprechend ihren individuellen physiologischen Gegebenheiten und den Vorschriften der Gesellschaft bezüglich der geschlechtlichen Identitäten.

Frauen und Männer machen im Leben unterschiedliche Erfahrungen, die ihre Gesundheit auf verschiedene Weise beeinflussen und abweichende Gesundheitswahrnehmungen zur Folge haben. Aufgrund ihrer verschiedenen Lebensumstände sind sie unter anderem mit unterschiedlichen Ursachen von Stress konfrontiert. Frauen sind häufiger von Sexismus und sexueller Belästigung am Arbeitsplatz oder an öffentlichen Orten sowie von der Belastung durch unbezahlte Haus- und Familienarbeit betroffen, die oft unsichtbar ist und zusätzlich zu einer Erwerbsarbeit verrichtet wird.

Männer erleben Stress hingegen eher in der «männlichen» Rolle als Hauptverdiener des Haushalts (Krieger, 2020). Einige Ergebnisse der SGB bestätigen dies, denn sie zeigen, dass sich der Erwerbsstatus unterschiedlich auf die genannten Gesundheitsindikatoren auswirkt: In allen Altersgruppen und über alle drei Bildungsstufen hinweg sind geschlechtsspezifische Unterschiede zu beobachten. In der Altersgruppe der 25- bis 64-Jährigen verschwinden diese jedoch, wenn Männer nichterwerbstätig oder erwerbslos sind. In diesem Fall berichten sie ebenso häufig über gesundheitliche Probleme wie nichterwerbstätige Frauen. Keine Arbeit zu haben, beeinträchtigt die Gesundheit der Männer offenbar stärker als jene der Frauen.

Diese unterschiedlichen Lebensumstände, die zum Teil durch soziale Geschlechternormen geschaffen werden, führen dazu, dass Frauen und Männer unterschiedliche Bewältigungsstrategien (mit unterschiedlichen Auswirkungen) entwickeln, die ihrerseits durch tradierte Rollenmuster geprägt sind. So neigen Männer eher zu Alkoholkonsum, Gewalt- und Risikoverhalten, während Frauen eher Essstörungen, eine geringere Kontrollüberzeugung und Schuldgefühle entwickeln (Bird et al., 2012). Schliesslich trägt dieses unterschiedliche Reaktionsverhalten auch dazu bei, die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der gesundheitlichen Auswirkung psychosozialer Belastung zu akzentuieren.

Neben allgemeinen gesundheitlichen Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern und den unterschiedlichen Auswirkungen psychosozialer Belastung auf ihre Gesundheit sind auch Unterschiede bei der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems zu beobachten. Frauen nutzen Screening- und Präventionsprogramme konsequenter als Männer (Le Talec et al., 2019) und suchen häufiger eine Ärztin oder einen Arzt auf. Aus den Daten der SGB geht beispielsweise hervor, dass Frauen in den zwölf Monaten vor der Befragung häufiger als Männer mindestens einmal eine Arztpraxis aufgesucht haben (88% gegenüber 74%), und zwar bis 74 Jahre über alle Altersgruppen hinweg.

Diese insgesamt grössere Konsultationshäufigkeit gilt für Haus- und Facharztpraxen (ohne Gynäkologinnen und Gynäkologen). Diese Unterschiede lassen sich durch Ungleichheiten in der Morbidität, d.h. eine weniger gute Gesundheit der Frauen erklären. Sie lassen sich auch durch soziale Geschlechterrollen erklären, die einen Einfluss darauf haben, wie Menschen sich um andere und um sich selbst kümmern, wobei die «Fürsorge» (care) in der Sozialisation von Mädchen und Frauen von Kindheit an einen hohen Stellenwert hat.

Bei dieser Rollenzuschreibung kommt der Frau die Funktion einer «Hüterin des Wohlbefindens» der Familie zu. Umgekehrt werden Knaben und Männer – pauschal gesagt – eher dazu ermutigt, stark, unabhängig und beschützerisch zu sein und keine Anzeichen von Verwundbarkeit und Schwäche zu zeigen (wozu auch Krankheit gehört), damit sie letztlich ihre Rolle als Stütze der Wirtschaft und Gesellschaft erfüllen.

Korpulenz und Körperbild

In den letzten 30 Jahren hat die Zahl der übergewichtigen Personen weltweit deutlich zugenommenen. Adipositas und Übergewicht stellen für die öffentliche Gesundheit eine grosse Herausforderung dar, zählen sie doch zu den Risikofaktoren für zahlreiche Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Krankheiten.

Die Zahlen der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) 2017 zeigen, dass Männer in allen Altersgruppen häufiger übergewichtig oder adipös sind (G2).

Frauen sind zwar seltener übergewichtig als Männer, aber häufiger unzufrieden mit ihrem Körpergewicht (28% gegenüber 22%). Noch deutlicher ist der Unterschied der Unzufriedenen beim Übergewicht (50% der Frauen gegenüber 29% der Männer) und bei Adipositas (74% gegenüber 57%).

Dass Frauen und Männer eine unterschiedliche Einstellung zum Körpergewicht haben, zeigt sich auch daran, dass der Anteil Männer, die mit ihrem Körpergewicht unzufrieden sind, bei übergewichtigen und untergewichtigen Männern sehr ähnlich ist (36% bzw. 30%), während sich diese Anteile bei den Frauen deutlich unterscheiden: 57% der Frauen mit Übergewicht und 13% der Frauen mit Untergewicht sind unzufrieden mit ihrem Körpergewicht. Während mehr Männer übergewichtig sind, ist der Anteil an Untergewichtigen bei den Frauen deutlich höher (5% gegenüber 1%): Untergewicht bei Männern ist sehr selten, ausser in der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen, wo dies etwas häufiger vorkommt.

Diese Unterschiede zwischen Frauen und Männern bezüglich Korpulenz und Gewichtswahrnehmung lassen sich durch verschiedene Faktoren erklären. Das Körpergewicht wird zum einen durch die genetische Veranlagung bestimmt. Zum anderen sind körperliche Aktivität und Ernährung zwei soziale Faktoren, die das Körpergewicht im Laufe des Lebens beeinflussen und die ihrerseits bis zu einem gewissen Grad durch eine Person selber beeinflusst werden können. Geschlechternormen wirken auch auf diese beiden sozialen Faktoren ein.

Anstelle einer detaillierten Analyse des mehr oder weniger direkten Zusammenhangs zwischen Korpulenz und verschiedenen physischen, psychosozialen und soziodemografischen Gesundheitsfaktoren (BFS, 2020) wird im Folgenden auf einige Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern in Bezug auf körperliche Aktivität und Ernährung eingegangen, die aufzeigen, wie Geschlechternormen generell das Verhältnis zum Körper und zur Korpulenz beeinflussen.

Körperliche Aktivität

Die geschlechtsspezifischen Differenzen im Bewegungsverhalten sind heterogen. Gemessen an den Empfehlungen in diesem Bereich waren Männer im Jahr 2017 in ihrer Freizeit etwas häufiger körperlich aktiv als Frauen (78% gegenüber 74%). Als ausreichend aktiv gilt, wer pro Woche mindestens zweimal einer intensiven körperlichen Aktivität nachgeht (mit Schwitzen) oder sich mindestens 150 Minuten pro Woche bei mässiger Intensität bewegt. Frauen sind demnach geringfügig häufiger teilaktiv oder inaktiv.

Demgegenüber waren Frauen nach eigenen Angaben häufiger als Männer täglich zu Fuss oder mit dem Fahrrad unterwegs zur Arbeit, zur Schule oder um einzukaufen, und sie legten dabei auch häufiger Wege von mehr als 30 Minuten Dauer zurück (36% gegenüber 31% bei Männern). Schliesslich verbrachten Frauen insgesamt weniger Stunden täglich im Sitzen.

Ernährung

Frauen über alle Altersgruppen hinweg geben häufiger als Männer an, auf ihre Ernährung zu achten (73% gegenüber 63% bei Männern). Diese Unterschiede im Ernährungsbewusstsein werden durch die Indikatoren zum Obst- und Gemüse- sowie zum Fleischkonsum bestätigt. Frauen essen deutlich häufiger als Männer fünf Portionen Früchte und/oder Gemüse an mindestens 5 Tagen pro Woche (G3), und die Kluft zwischen den Geschlechtern vergrössert sich mit zunehmendem Bildungsstand (von 18% bzw. 11% bei den Frauen bzw. Männern ohne nachobligatorische Ausbildung auf 37% bzw. 16% bei jenen mit Tertiärabschluss).

Ernährungsfachleute raten davon ab, mehr als vier Mal pro Woche Fleisch zu konsumieren. Gemessen an diesen Empfehlungen essen fast doppelt so viele Männer wie Frauen zu oft Fleisch (46% im Vergleich zu 25%), d.h. an fünf bis sieben Tagen in der Woche. Dieser Geschlechterunterschied ist über alle Altersgruppen hinweg deutlich erkennbar, bei den jüngeren Personen ist er jedoch noch ausgeprägter: 61% der Männer im Alter von 15 bis 24 Jahren essen mindestens fünf Mal pro Woche Fleisch, gegenüber 34% der Frauen im gleichen Alter.

Geschlechternormen im Verhältnis zum Körper

Diese ausgeprägten geschlechtsspezifischen Unterschiede im Ess- und Bewegungsverhalten könnten auf das Verhältnis zum Körper und die Vorstellungen von einem gesunden Körper zurückzuführen sein, die wiederum durch soziale Geschlechternormen beeinflusst werden.

Die Einstellung zum Gewicht ist komplex. Sie hängt mit dem Selbstbild und mit den Vorstellungen von einem gesunden Körper zusammen, die je nach Epoche und Kultur variieren. So wird zum Beispiel die Assoziation zwischen einem muskulösen Körper und einem gesunden Körper häufiger für Männer gemacht als für Frauen (Wardle et al., 2004). Ausserdem werden Frauen ermuntert, während der Schwangerschaft auf ihre Ernährung zu achten (Kiefer et al., 2008). Frauen schenken dem Körperbild bzw. der Korpulenz generell mehr Aufmerksamkeit. Sie stehen unter dem sozialen Druck, schlank zu sein, weil ein schlanker Körper als Norm für Schönheit, aber auch für Gesundheit gilt.

Gesundheitsnormen wirken hier verstärkend zu den Schönheitsnormen. Diese Normen finden mit Hilfe der Medien, der Mode- und Filmbranche und der sozialen Netzwerke eine enorme Verbreitung (Wardle et al., 2004). Das genderspezifisch geprägte Verhältnis zum Körper und zum Körpergewicht manifestiert sich somit bei den Frauen in einem schlanken Körper und bei den Männern in einem kräftigeren Körper, der positiv mit Stärke konnotiert wird. Infolgedessen wird Übergewicht von Frauen und Männern subjektiv unterschiedlich wahrgenommen: Übergewicht ist bei den Frauen nicht nur häufiger eine Ursache von Unzufriedenheit, sie glauben auch eher, dass sie übergewichtig sind, wenn dies nicht der Fall ist (Saint Pol, 2010).

Dies soll nicht heissen, dass das Verhältnis der Männer zum Körper nicht auch sozialem Druck unterliegt, wenn auch einem geringeren, da Untergewicht in der Wahrnehmung des männlichen Körpers ähnlich eingestuft wird wie Übergewicht bei den Frauen. Geschlechternormen im Zusammenhang mit dem Körper und der Korpulenz dürften somit zu einem guten Teil erklären, weshalb Übergewicht und Adipositas bei Frauen weniger verbreitet sind. Sie erklären aber auch, weshalb Frauen häufiger untergewichtig sind und Angst vor Übergewicht haben, was sich in einem häufigeren Auftreten von Essstörungen, insbesondere Anorexie und Bulimie, äussern kann.

Schmerzen

Schmerz ist das Ergebnis eines mehrstufigen Prozesses: Schmerzen entstehen zunächst biologisch bei Überlastung oder Verletzung eines Gewebes. Sie werden anschliessend vom Nervensystem wahrgenommen und interpretiert und schliesslich vom Menschen empfunden. Schmerz ist definitionsgemäss subjektiv und in jedem Stadium dieses Prozesses von Mensch zu Mensch verschieden. Einige Unterschiede sind biologischer Natur, bedingt durch Hormone, durch die Art der Rezeptoren und weitere Mechanismen, die noch wenig erforscht sind (Mapplebeck et al., 2016).

Studien deuten darauf hin, dass verschiedene soziale Prozesse einen entscheidenden Einfluss auf geschlechtsspezifische Unterschiede in der Schmerzempfindlichkeit und der Schmerzreaktion haben (Samulowitz et al., 2018). Mädchen und Knaben werden von Kindheit an unterschiedlich sozialisiert. Vereinfacht gesagt werden Knaben dazu angehalten, stark und unempfindlich zu sein, oder zumindest weniger über Schmerzen zu klagen, während Mädchen dazu ermutigt werden, empfindlich zu sein und ihr Unwohlsein zu äussern (Robinson et al., 2001).

Die Daten der SGB lassen erhebliche Unterschiede im Schmerzempfinden erkennen: Frauen berichten häufiger als Männer von Schmerzen im Verdauungstrakt, Kopfschmerzen sowie Gelenk- und Gliederschmerzen (G4).

Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede im Schmerzempfinden bestehen über alle Alters- und Bildungsstufen hinweg.

Wie bei vielen anderen Gesundheitsaspekten nehmen die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Schmerzempfinden bei den nichterwerbstätigen oder erwerbslosen Personen im Alter von 25 bis 64 Jahren jedoch sehr deutlich ab oder fallen ganz weg. Ein Beispiel: Während 12 Prozent der erwerbstätigen Männer und 20 Prozent der erwerbstätigen Frauen angeben, an Bauchschmerzen zu leiden, beträgt dieser Anteil bei den nichterwerbstätigen oder erwerbslosen Männern und Frauen 23 Prozent bzw. 25 Prozent.

Schliesslich zeigt sich, dass Frauen mehr Schmerzmittel einnehmen, und zwar in allen Altersgruppen (G5).

Biologische und soziale Aspekte

Die aufgeführten Beispiele zeigen: Frauen haben ein stärkeres Schmerzempfinden als Männer, was einen höheren Schmerzmittelkonsum zur Folge haben kann. Verschiedene biologische und soziale Faktoren liefern Erklärungsansätze hierfür.

Auf biologischer Ebene gehen einige Studien von einer geringeren Wirksamkeit von Schmerzmitteln bei Frauen aus (Gross, 2004). Es ist bekannt, dass die klinische Arzneimittelforschung lange praktisch ausschliesslich eine Forschung an Männern war, was zuweilen Fragen bezüglich der Wirksamkeit und Sicherheit dieser Arzneimittel bei Frauen aufwarf. Ausserdem ist belegt, dass es Geschlechterunterschiede bezüglich Schmerzentwicklung und Schmerzkontrolle gibt, durch die sich nicht nur eine niedrigere Schmerzschwelle bei den Frauen, sondern auch unterschiedliche Ansatzpunkte für die Behandlung von Frauen und Männern erklären lassen.

Aus Sicht des sozialen Einflusses haben Frauen besser gelernt, ihre Schmerzen auszudrücken. Entsprechend fällt es ihnen leichter, sich beraten zu lassen, wenn sie Schmerzen haben. Dazu kommt ein weiterer Erklärungsansatz: jener der Bewältigungsstrategien. Diese zeigen, dass Frauen und Männer von Kindheit an anders lernen, mit Problemen umzugehen und diese zu lösen. Es liegt deshalb nahe, dass dies zu einer unterschiedlichen Schmerzwahrnehmung der beiden Geschlechter und zu einem stärkeren Schmerzempfinden bei Frauen beiträgt.

Ein letzter Erklärungsansatz könnten die generellen Geschlechterungleichheiten sein: Demnach hätten Frauen aufgrund ihrer allgemein ungünstigeren sozialen Stellung mehr psychosozialen Stress und würden deshalb unter anderem eher chronische Schmerzen entwickeln (Krieger, 2020).

Interessant an diesen Beispielen ist auch, dass Männer durch die ihnen traditionell zugewiesene soziale Rolle ebenfalls Nachteile erleiden können. So ist der Anteil Männer, die von den oben genannten Schmerzen betroffen sind, wesentlich grösser, wenn nur Teilzeiterwerbstätige oder Nichterwerbstätige betrachtet werden. In diesem Fall verringert sich der Unterschied zwischen den Geschlechtern deutlich. Anhand der sozialen Geschlechterrollen liesse sich dies durch einen erhöhten sozialen Druck im Zusammenhang mit der «männlichen» Rolle des Hauptverdieners erklären, wonach Männer ihre Identität stärker als Frauen über die Erwerbsarbeit definieren.

Rauchen

Rauchen ist ein genderspezifisch geprägtes Verhalten, d.h. es wurde und wird in gewissem Umfang weiterhin durch Geschlechternormen beeinflusst (Denton et al., 1999). Die Tabakindustrie hat das Rauchen anfänglich für Männer beworben (Clair, 2015), bevor sie ab den 1950er- und 1960er-Jahren auch die Frauen als Zielgruppe entdeckte und Zigaretten als Mittel zur Emanzipation, als Ausdruck von erreichter Gleichstellung, Freiheit und Nonkonformismus sowie zur Gewichtskontrolle präsentierte. Frauen begannen daher später mit dem Rauchen und die gesundheitlichen Folgen des Rauchens wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Atemwegserkrankungen traten bei ihnen entsprechend verzögert bzw. erst in jüngster Zeit auf.

Neben spezifisch weiblichen oder schwangerschaftsbedingten Krankheiten haben Raucherinnen im Vergleich zu Rauchern ein erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko. Dieses ist auf die doppelte Aktiv- und Passivrauchexposition der Raucherinnen (durch das Rauchen des Partners), aber auch auf Unterschiede in der Metabolisierung der Zigarettenbestandteile zurückzuführen.

2017 rauchten in der Schweiz über alle Altersgruppen hinweg mehr Männer als Frauen (31% gegenüber 23%). Auch der Anteil der ehemaligen Rauchenden ist bei den Männern höher (24% gegenüber 19% der Frauen). Dieser Geschlechterunterschied ist besonders ausgeprägt bei den stark rauchenden Personen (≥20 Zigaretten täglich), wobei dieser Gruppe doppelt so viele Männer wie Frauen angehören (8% gegenüber 4%).

Es rauchen weniger Personen mit Tertiärabschluss als Personen mit tieferem Bildungsstand. Dieser soziale Gradient ist bei Männern und Frauen zu finden, bei den Frauen ist er jedoch weniger ausgeprägt, was durch die spätere Verbreitung des Rauchens bei den Frauen erklärt werden kann.

Historisch gesehen wurde zunächst vor allem in den besser gestellten Bevölkerungsschichten geraucht, die sozioökonomisch niedrigeren Schichten zogen später nach. Analog dazu hörten Personen aus höheren sozialen Schichten bis anhin häufiger mit dem Rauchen auf (Hitchmann et al., 2011). Diese bei Frauen und Männern ähnlichen, aber aufgrund der späteren Verbreitung des Frauenrauchens zeitverschobenen Trends erklären somit einen sozialen Gradienten beim Rauchen, der bei den Männern stärker ausgeprägt ist als bei den Frauen.

Nachdem der Anteil der Rauchenden von 1992 auf 1997 markant angestiegen war, ging er von 1997 bis 2007 bei beiden Geschlechtern zurück. Seit 2007 hat er sich stabilisiert. Die Differenz zwischen dem Anteil Raucherinnen und Raucher in der Schweiz hat sich in den letzten 25 Jahren tendenziell verringert: Von 1992 bis 2017 ging er bei den Frauen weniger stark zurück (–0,8 Prozentpunkte) als bei den Männern (–5,6 Prozentpunkte) (G6).

Diese Annäherung des Rauchverhaltens der beiden Geschlechter dürfte mit ein Grund sein für die gleichzeitige parallele Annäherung der Lebenserwartung von Männern und Frauen, auch wenn dabei zahlreiche weitere Faktoren eine Rolle spielen.

Geschlechtsspezifische Ungleichheiten bei chronischen Krankheiten

Die drei oben erörterten Themen (Korpulenz und Körperbild, Schmerzen sowie Rauchen) dienen dem Verständnis dafür, wie biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern, vor allem aber durch Geschlechterrollen und -beziehungen bedingte soziale Unterschiede, die Gesundheit spezifisch und gesamthaft beeinflussen. Genderspezifisch geprägte Verhaltensweisen beeinflussen die Ess-, Bewegungs- und Rauchgewohnheiten, die Korpulenz und das Schmerzempfinden, die sich ihrerseits auf die Entstehung, Diagnose und Behandlung von chronischen Krankheiten auswirken.

Obwohl diese Einflussfaktoren schwer quantifizierbar sind, weil sie komplex und mit anderen Faktoren wie dem Alter oder dem sozioökonomischen Status verwoben sind, soll hier die Bedeutung des Geschlechts als Gesundheitsdeterminante anhand einiger Beispiele aufgezeigt werden.

Rauchen ist ein Hauptrisikofaktor für die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs. So ist der stärkere Herzinfarkt-Rückgang bei jungen Männern im Vergleich zu den Frauen zum Teil auf Veränderungen beim Anteil Rauchender in den letzten Jahren, insbesondere den Rückgang bei den Männern, zurückzuführen (Arora et al., 2019). In einigen Nachbarländern wird sogar ein alarmierender Anstieg der Herzinfarktraten bei jüngeren, prämenopausalen Frauen verzeichnet.

Andere Faktoren tragen ebenfalls zu dieser unterschiedlichen Entwicklung bei: Dazu gehören eine weniger rasche Behandlung der Krankheiten bei Frauen oder Therapien, die weniger wirksam sind, weil die Forschung zum grossen Teil an männlichen Probanden durchgeführt wurde. Ein weiteres Beispiel in Zusammenhang mit dem Rauchen ist die Entwicklung beim Lungenkrebs: Bei den Männern nehmen die Neuerkrankungs- und Sterberaten in der Schweiz seit den 1980er-Jahren ab (–36% bzw. –45%), während bei den Frauen beide Raten zunehmen (+94% bzw. +88%) (BFS, 2016).

Der Anteil der Todesfälle bei Frauen aufgrund von Lungenkrebs nimmt zu. Lungenkrebs ist heute bei den Frauen in der Schweiz und in zahlreichen weiteren Ländern (USA, Frankreich) die häufigste Todesursache, noch vor Brustkrebs (G7).

Übergewicht, Bewegungsmangel und eine unausgewogene Ernährung sind Risikofaktoren für Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Krankheiten. Nichtübertragbare Krankheiten sind auf dem Vormarsch, darunter Diabetes, an dessen Entstehung Adipositas ursächlich beteiligt ist. Typ-2-Diabetes tritt bei Männern häufiger auf als bei Frauen und wird zu einem guten Teil mit der Ernährung und mit Adipositas, insbesondere abdominaler Adipositas, in Verbindung gebracht. Hormone haben einen positiven Einfluss auf die Körperfettverteilung, weshalb prämenopausale Frauen relativ gut vor abdominaler Adipositas geschützt sind.

Diese positive Körperfettverteilung kann jedoch durch das Rauchen beeinträchtigt werden: Tabak hat eine antiöstrogene Wirkung, d.h. der schützende hormonelle Effekt wird aufgehoben, weshalb Raucherinnen ein höheres Risiko für Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben. Das Rauchverhalten wirkt sich in diesem Fall direkt auf den Hormonhaushalt und den Stoffwechsel aus.

Ausserdem wirken Gesundheitsförderungs- und Präventionsmassnahmen bei Männern weniger, was ihre Risikoexposition potenziell erhöht. Dies könnte daran liegen, dass die Präventionsbotschaften nicht auf Männer zugeschnitten sind, oder auch daran, dass sich Männer weniger um ihre Gesundheit kümmern. Hierzu ist zu bemerken, dass sich die sozialen Normen in Bezug auf die Vorstellung von einem «gesunden» männlichen Körper seit dem Aufkommen der sozialen Netzwerke im Wandel befinden, insbesondere bei jungen Männern.

Schliesslich hat das Geschlecht einen wichtigen Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung und den Ausdruck von Schmerz. Schmerzen sind oft ein Alarmsignal oder ein erstes Anzeichen für eine Krankheit. Das Schmerzempfinden und der Ausdruck von Schmerz können die Diagnose einer Krankheit erleichtern oder erschweren. Dies gilt z.B. für den Herzinfarkt, wo Frauen oft nicht die als «typisch» geltenden Symptome haben, welche sofort an ein Herzproblem denken lassen. Weil die Symptome anders bzw. weniger bekannt sind, wird der Infarkt oft zu spät oder gar nicht erkannt und behandelt, was mit ein Grund ist, weshalb Frauen nach einem Koronarereignis schlechtere Überlebenschancen haben.

Schlussfolgerung

Soziale Ungleichheit kann gesundheitliche Ungleichheit in Bezug auf nichtübertragbare Krankheiten zur Folge haben. Die Ursachen dafür sind komplex und noch wenig erforscht. Die hier vorgestellten Ergebnisse zeigen jedoch, dass das Gesundheitsverhalten massgeblich durch gesellschaftliche Normen wie Geschlechterrollen und -beziehungen geprägt und beeinflusst wird. Geschlechtsspezifische Werte und Normen – so komplex, dynamisch und wandelbar in der Zeit sie auch sind – führen im Verbund mit anderen Faktoren wie Alter, sozioökonomischem Status und ethnischer Zugehörigkeit dazu, dass Frauen und Männer unterschiedliche soziale Erfahrungen machen, die sich unterschiedlich auf ihren Körper übertragen.

Dieser geschlechterdifferenzierte Gesundheitsansatz erlaubt es, Präventions- und Gesundheitsförderungsstrategien zu entwickeln, die besser auf die Risikogruppen und auf die gesundheitlichen Eigenarten von Frauen und Männern ausgerichtet sind, ohne Stereotype zu reproduzieren. Dieser Ansatz stellt auch eine wichtige Voraussetzung für Massnahmen auf der strukturellen Ebene dar, die es in Kombination mit der Eigenverantwortung der Personen braucht, um gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern (Schwarz et al., 2019).

Datenquelle

Die Publikation stützt sich auf die Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB). Die SGB wird seit 1992 alle fünf Jahre vom Bundesamt für Statistik (BFS) durchgeführt.

2017 hat die sechste Befragung, die Teil des Erhebungsprogramms der eidgenössischen Volkszählung ist, stattgefunden. Sie liefert wichtige Informationen zum Gesundheitszustand der Bevölkerung, zum Gesundheitsverhalten sowie zur Inanspruchnahme der Gesundheitsdienste. Insgesamt nahmen 22 134 in Privathaushalten lebende Personen ab 15 Jahren an der Erhebung teil: 10 463 Männer und 11 671 Frauen. Es handelt sich dabei um ein telefonisches Interview, gefolgt von einem schriftlichen Fragebogen auf Papier oder online.

 

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Quelle: Schweizerische Gesundheitsbefragung (SGB) 2017

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Chefredaktor safety-security.ch / CEO bentomedia GmbH / Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Betriebssanität SVBS / SFJ-Award für Qualitäts-Fachjournalismus

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