Freitag, 20. September 2024
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Ab Montag, 13. September 2021, gilt im Innern von Restaurants, von Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie an Veranstaltungen in Innenräumen eine Zertifikatspflicht. Das Covid-Zertifikat darf auch von Arbeitgebern im Rahmen von Schutzmassnahmen genutzt werden. Dies hat der Bundesrat an seiner Sitzung vom 8. September entschieden. Doch was bedeutet dies konkret, insbesondere für die Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden in der Schweiz? Gibt es eine Impfpflicht am Arbeitsplatz?

Autor: Michel Rohrer

Die Lage spitzt sich zu und zwar nicht nur aus epidemischer Sicht, sondern auch aus rechtlicher Sicht. Das Epidemiengesetz sieht bereits heute die Möglichkeit vor, Impfungen unter bestimmten Umständen als obligatorisch zu erklären[1]. Doch selbst bei der Einführung eines Impfobligatoriums darf grundsätzlich niemand gegen seinen Willen geimpft werden, zumindest nicht mittels physischem Zwang.[2] Doch es steht nirgends geschrieben, dass dies nicht subtiler, zum Beispiel mittels psychischem Druck erfolgen darf.

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Obschon (aktuell noch) keine direkte Impflicht besteht, kann die Einführung einer Zertifikatspflicht am Arbeitsplatz – indirekt einen solchen psychischen Druck aufbauen, welcher letztlich einer Impfpflicht gleichkommt, wie die zahlreich geführten Einzelgespräche mit betroffenen Arbeitnehmenden bestätigen.

Eine Impfpflicht stellt somit einen erheblichen Eingriff in das Recht auf persönliche Freiheit respektive den Schutz der körperlichen Unversehrtheit und der Willensfreiheit des Einzelnen dar, welcher grundsätzlich von der Bundesverfassung geschützt ist.

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Doch wie ist die aktuelle Rechtslage in der Schweiz wirklich? Kann der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zur Impfung verpflichten?

Unterscheiden wir zunächst folgende drei Bereiche:

  • das Impfobligatorium,
  • die Impflicht und
  • die Impfanweisung

Impfobligatorium

Gemäss Artikel 10 Absatz 2 der Bundesverfassung hat jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.

Doch gilt dieses Recht absolut? Nein, Grundrechte dürfen eingeschränkt werden, sofern folgende Voraussetzungen gemäss Artikel 36 Bundesverfassung gegeben sind:

  • Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr (Absatz 1).
  • Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein (Absatz 2).
  • Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein (Absatz 3).

Daraus kann abgeleitet werden, dass ein Eingriff in die grundrechtlich geschützte physische Integrität einer Person immer dann gerechtfertigt ist, wenn eine gesetzliche Grundlage besteht, ein öffentliches Interesse (aktuell die Gesundheit der Bevölkerung) verfolgt wird, sowie die Verhältnismässigkeit (Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit) gegeben ist.

Ein Impfobligatorium ist somit gestützt auf das Epidemiengesetz (gesetzliche Grundlage) und aufgrund der konkreten medizinisch-epidemiologisch begründete Pandemie-Gefahr, welche vom Corona-Virus ausgeht und die öffentliche Gesundheit bedroht ohne weiteres möglich. Das öffentliche Interesse dürfte damit also auch gegeben sein.

Bleibt noch die Frage nach der Verhältnismässigkeit. Das Verhältnismässigkeitsprinzip ist in der Schweiz ein Rechtsgrundsatz und verlangt das Abwägen von Massnahmen im öffentlichen Interesse gegenüber den dadurch entstehenden Einschnitten in private Interessen und Grundrechte.

Das Impfobligatorium müsste demnach ein geeignetes beziehnungsweise zweckmässiges sowie ein erforderliches Mittel sein, um ein öffentliches Interesse durchzusetzen, und gegenüber dem Eingriff in die betroffenen Privatinteressen abgewogen werden.

Unter der Annahme, dass die Impfung tatsächlich geeignet und erforderlich ist, die öffentliche Gesundheit zu schützen, muss vorliegend davon ausgegangen werden, dass ein Impfobligatorium bei gefährdeten Bevölkerungsgruppen (wie zum Beispiel ältere und kranke Menschen), bei besonders exponierten Personen und bei Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben (wie Menschen in Pflegeberufen), für obligatorisch erklärt werden kann und darf.

Impfpflicht

Die Pflicht zur Impfung entsteht einerseits aus dem Impfobligatorium heraus und andererseits kann diese Pflicht auch aufgrund des Weisungsrechtes des Arbeitgebers entstehen.

Eine Impfpflicht ist jedoch nur möglich, wenn eine konkrete verhältnismässig hohe Gefährdung vorliegt, die sich im Fall einer Nichtimpfung trotz ergriffener sonstiger Schutzmassnahmen für die Mitarbeitenden selber oder Dritte (zum Beispiel Patienten, Klienten, Arbeitskollegen) ergibt.

Zudem kann sich die Situation je nach Arbeitsverhältnis (privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich) unterscheiden. Es muss für jeden Einzelfall eine entsprechende Güterabwägung stattfinden. Eine generelle Impfpflicht für die ganze Belegschaft eines Betriebes ist nicht zulässig.

Impfanweisung

Das sogenannte Weisungsrecht des Arbeitgebers ergibt sich aus dem Unterordnungsverhältnis, welches eines der Wesensmerkmale des Arbeitsvertrages ist.[3] Weisungen dienen der Konkretisierung des Arbeitsverhältnisses und werden einseitig durch den Arbeitgeber erlassen.

Es gibt verschiedene Arten von Weisungen, zum Beispiel Arbeitsanweisungen, welche die Ausführung der Arbeit betreffen und meist fachliche oder technische Vorschriften enthalten. Daneben gibt es sogenannte Verhaltensanweisungen, welche das Verhalten der Mitarbeiter regeln und in der Regel Aspekte der Sicherheit, Gesundheit, Bekleidung, Pausen, Benutzung von Telefon und Internet betreffen.

Eine Weisung zur Vornahme einer Impfung wäre als Verhaltensanweisung zu qualifizieren, welche primär die Gesundheit des Arbeitnehmers und indirekt auch jene der Arbeitskollegen, Kunden betrifft.

Grundsätzlich ist der Arbeitnehmer verpflichtet, die Weisungen des Arbeitgebers zu befolgen soweit ihm dies gemäss Treu und Glauben zugemutet werden kann.[4]

Als eine weitere Schranke für die Befolgung von Weisungen kann die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers angesehen werden. Gemäss Artikel 328 Absatz 1 OR hat der Arbeitgeber die Persönlichkeit des Arbeitnehmers zu achten und zu schützen und auf dessen Gesundheit gebührend Rücksicht zu nehmen.

Doch bereits der zweite Absatz dieser Bestimmung erzeugt für den Arbeitgebenden ein Interessenkonflikt. Absatz 2 besagt nämlich, dass der Arbeitgeber zum Schutz von Leben, Gesundheit und persönlicher Integrität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Massnahmen zu treffen hat, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes angemessen sind, soweit es mit Rücksicht auf das einzelne Arbeitsverhältnis und die Natur der Arbeitsleistung ihm billigerweise zugemutet werden kann.

Der Arbeitgeber steht demnach vor der Wahl bzw. Abwägung, ob er die Persönlichkeit des einzelnen Arbeitnehmenden achten und schützen möchte oder unter Umständen die Gesundheit aller Arbeitnehmenden, Kunden, Patienten usw.

Es geht also letztlich um eine Interessenabwägung zwischen den Interessen des Arbeitgebers und denjenigen des Arbeitnehmers. Ob das Weisungsrecht des Arbeitgebers in dieser Frage der Impflicht gegenüber dem individuellen Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers überwiegen wird, wird uns die Rechtsprechung der kommenden Monate sicherlich zeigen.

Bereits jetzt kann jedoch gesagt werden, dass im Grundsatz nach eine pauschale Impfpflicht für den gesamten Betrieb als unverhältnismässig und somit als nicht zulässig erachtet wird.

Doch kein Grundsatz ohne Ausnahme. Wer beispielsweise als Spital- oder Pflegeangestellter einer exponierten Tätigkeit nachgeht und dabei engen Kontakt zu Infizierten oder vulnerablen Personen hat, welche einen besonderen Schutz bedürfen, wird eher eine Impfanweisung zu akzeptieren haben, als jemand, der in einem Einzelbüro arbeitet und keinen direkten Kundenkontakt hat.

Falls der Arbeitgeber aufgrund der konkreten Situation die Impfung verlangen kann (siehe oben), dann ist ein Nichtbefolgen dieser Weisung eine Verletzung der arbeitsrechtlichen Pflichten. Dies kann eine Verwarnung, eine Versetzung im Betrieb oder schlussendlich auch eine Kündigung zur Folge haben.

Zertifikat am Arbeitsplatz

Doch vorderhand geht es in der Regel (noch) nicht um eine Impfpflicht als solche, sondern um die Nutzung des Zertifikats am Arbeitsplatz.

Arbeitgeber dürfen das Vorliegen eines Zertifikats bei ihren Arbeitnehmenden immer dann überprüfen, wenn es dazu dient, angemessene Schutzmassnahmen festzulegen oder Testkonzepte umzusetzen. Die Information über den Immunitätsstatus oder das Testergebnis dürfen ausserdem für keine weiteren Zwecke verwendet werden.

Falls ein Arbeitgeber von seinen (ungeimpften) Arbeitnehmenden einen Test verlangt, muss er die Kosten dafür selber tragen. Der Test hat während der Arbeitszeit zu erfolgen.

Fazit

Die Anordnung einer Impfpflicht bzw. Impfanweisung bedarf somit immer einer Güterabwägung im Einzelfall. Eine Impfpflicht gestützt auf die Weisungspflicht des Arbeitgebers dürfte deshalb nur dann zulässig sein, wenn trotz Einhaltung aller möglichen Schutzmassnahmen eine konkrete Gefahr für die Gesundheit der anderen Arbeitnehmenden oder Dritten (Kunden, Patienten) besteht.

Oder anders ausgedrückt, kann der Gesundheitsschutz des Arbeitnehmenden bzw. des Betriebes oder von Dritten durch andere, weniger einschneidende Schutzmassnahmen, gewährleistet werden, dürfte die Anordnung einer Impfpflicht nicht zulässig sein.

Der Autor lic. iur. Michel Rohrer ist ausgewiesener Spezialist und Sicherheitskoordinator nach EKAS u.a. spezialisiert auf Arbeits- und Gesundheitsrecht, Internet www.aequitas-kontrollen.ch, Mail michel.rohrer@aequitas-ag, Telefon 061 281 75 15.

 

 

 

[1]    Art. 22 und Art. 6 Abs. 2 lit. d EpG.

[2]    Art. 38 Abs. 3 EpV (Epidemieverordnung).

[3]    Artikel 321d Absatz 1 OR (Obligationenrecht).

[4]    Artikel 321d Absatz 2 OR.

Lesen Sie auch: «Recht: Kurzarbeitsentschädigung bei Monatslöhnern wird falsch berechnet»

 

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