Donnerstag, 19. September 2024
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Was Vögel, Fische oder das Internet können, ist auch in der Ersten Hilfe ein spannender Ansatz. Mit Schwarmintelligenz können Organisationen zeit- und kosteneffizient eine effektive Hilfeleistung im Notfall erreichen und die Erste Hilfe gesetzeskonform sicherstellen.

Schwarmintelligenz – auch kollektive Intelligenz oder Gruppenintelligenz genannt – heisst der Ansatz, der darauf basiert, dass Gruppen von Individuen durch Zusammenarbeit intelligente Entscheidungen treffen.

Beispiele gibt es in der Natur, aber auch die Kommunikationsmöglichkeiten im Internet oder verschiedene Organisationsformen in der Wirtschaft zeichnen sich durch Schwarmintelligenz aus. Unter uns Menschen ist sie häufig eine Kulturfrage. Dass man jemandem hilft, der mit vielen Einkaufstaschen aus dem Bus aussteigt, ist ein Beispiel dafür – wir wissen instinktiv, was zu tun ist.

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„In der Ersten Hilfe haben wir das nie geschafft“, sagt Andreas Juchli, Geschäftsführer der JDMT Medical Services AG. „Hier sind die Kompetenzen gering, trotz entsprechenden Ausbildungen im Militär oder im Rahmen der Führerscheinprüfung. Das ist erstaunlich, denn Erste Hilfe wäre eigentlich nicht so schwierig. Aber es ist nun mal so, also müssen wir damit leben und umgehen.“

Schwarmintelligenz in der Ersten Hilfe

Trotzdem sieht Juchli auch rund um die betriebliche Erste Hilfe viel Potenzial für den Ansatz der Schwarmintelligenz. „Eigentlich ist es offensichtlich“, sagt er. „Anstatt einzelne Ersthelfer auszubilden, sollten alle Mitarbeitenden Ersthelfer:innen sein. Alle an einem Arbeitsplatz sollten wissen, was in einem Notfall zu tun ist. Wir können das erreichen, indem wir diese Menschen telefonisch unterstützen. Sie sind unsere Sensoren vor Ort, sie sagen uns, was sie sehen, riechen, hören. Wir leiten sie an, was sie tun sollen. Das können wir einfach und effizient ausbilden. Und: Arbeitgeber können dadurch eine Erste Hilfe sicherstellen, die gesetzeskonform ist und funktioniert – auch in Umfeldern, wo das sonst exorbitant teuer und aufwändig wäre.“

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Wie funktioniert Schwarmintelligenz in der Ersten Hilfe?

Schwarmintelligenz in der Ersten Hilfe heisst für Andreas Juchli: wenn immer ein Ereignis eintritt, wird der telefonische Aktivsupport der JDMT Medical Services AG direkt in die Hilfeleistung integriert, während 24 Stunden täglich und an sieben Tagen in der Woche. Dann findet eine Fachperson am Draht zusammen mit den Ersthelfern:innen heraus, worum es geht. «Das passiert auf Augenhöhe, aber wir entscheiden was zu tun ist und schützen die Ersthelfer:innen dadurch», sagt Juchli. «Dafür braucht es wenig technischen oder finanziellen Aufwand.»

Parallel versucht sein Unternehmen, über Schulungen und Roadshows möglichst viele Mitarbeitende zu erreichen, um die sogenannten Emergency Skills auszubilden. Dabei werden die wichtigsten Verhaltensweisen in möglichen Notfällen angesprochen – beispielsweise, dass die Patienten primär vor Folgeverletzungen geschützt werden, bevor man den Rest anschaut.

«Diese naheliegenden Emergency Skills vermitteln wir auf anschauliche Weise, zum Beispiel mit Videos, und dafür reichen 60 bis 120 Minuten», sagt Juchli. «Mit der Zeit erreichen wir dadurch einen immer breiteren Anteil der Belegschaft. Unsere Kunden haben wenig Aufwand für die Organisation und Vorbereitung und sie sparen wirtschaftlich durch weniger Absenzen für Kurse und durch ein besseres Funktionieren der Ersten Hilfe im Ereignisfall.»

Die Chronologie der Ersten-Hilfe-Massnahmen ist dabei ein zentrales Element der Ausbildungen, oder wie Juchli es sagt, «das prozedurale Arbeiten. Es ist uns wichtig, dass wir involviert werden, bevor etwas gemacht wird. Wenn jemand aber einen generalisierten Krampfanfall hat, müssen Ersthelfer:innen sofort den Kopf der Patienten schützen. Erst dann werden wir involviert. In der Regel haben wir uns dann nach 20 bis 30 Sekunden organisiert und in dieser kurzen Zeit werden Kopfverletzungen vermieden. Nun können wir die weiteren Massnahmen besprechen.»

Was heisst das für die Erste-Hilfe-Ausbildung?

„Die wichtigsten sieben Erste-Hilfe-Massnahmen werden selten von den Betriebssanitätern:innen durchgeführt, sondern von jenen Menschen, die zuallererst vor Ort sind“, sagt Andreas Juchli. „Sie müssen helfen können, damit die Überlebenschancen der Patienten genutzt werden können. Deshalb müssen wir die Wirkung in den Mittelpunkt stellen. Bei einem Kreislaufstillstand kämpfen wir um jede Sekunde, die richtige Erste Hilfe ist also ein wichtiger Emergency Skill. Das Beatmen kann man dabei zurückstellen – sowohl während der Reanimation als auch in Sachen Ausbildung. Wir können anleiten, falls es nötig werden würde.“

Wichtiger sei hingegen, dass Ersthelfer:innen kein Angst hätten, Kompressionen zu machen, und genau das müsse man trainieren. „Diese Menschen wollen helfen, sind aber unerfahren“, sagt Juchli. „Also muss ihre Hilfe funktionieren und darauf richten wir die Ausbildung aus – eine Ausbildung, die auch kürzer sein kann, weil die Ersthelfer:innen vor allem anwenden und weniger beurteilen müssen – letzteres übernimmt unser Aktivsupport.“

Die Sache mit den Lemmingen

Ein Zusammenwirken von Individuen muss nicht zwingend intelligent sein. Es kann auch negative Wirkungen entwickeln. Hier spricht man dann häufig vom Herdentrieb oder vom Verhalten von Lemmingen. In der Ersten Hilfe tritt zudem häufig das Phänomen einer Art Schwarm-Passivität auf – alle warten, ob nicht jemand anderes hilft.

Auch Andreas Juchli beobachtet häufig negative Wirkungen, «auch bei guten Betriebssanitätern:innen, die von uns ausgebildet wurden. Viel zu häufig sind deren erste Massnahmen, den Patienten etwas zu trinken zu geben oder sie in die stabile Seitenlage zu bringen. Das ist unwichtig.»

Juchli ergänzt: «Auch die Frage, ob man Patienten mit Herzstillstand beatmen soll oder nicht, kann man einfach beantworten: Wenn es ein herzbedingter Kreislaufstillstand ist, haben die Patienten in den ersten Minuten genügend Sauerstoff, also muss man erst ab einem späteren Zeitpunkt beatmen. Das kann dann jemand machen, der oder die dazu qualifiziert ist. Doch heute ist das immer und immer wieder eine zentrale Ausgangsfrage. Warum genau? Offenbar muss man viel tiefer in die Welt der Medizin eintauchen, um das zu beherrschen. Also müssen wir andere Wege finden, wie wir die Ersthelfer:innen unterstützen können.»

Besonders, wenn die Eisdicke unter den Füssen klein ist, werde es in der Ersten Hilfe auch gefährlich. „Wir vermitteln eine Doktrin“, sagt Andreas Juchli. „Wer hat den Lead, wer hält Rücksprache? Wir versuchen, die Ersthelfer:innen von der dünnen Eisdicke wegzuhalten. Wenn ein Unwohlsein ein Herzinfarkt sein könnte, wollen wir sofort den Rettungsdienst auf dem Platz haben. Ersthelfer:innen können das häufig nicht genügend beurteilen, also helfen wir ihnen weg von dieser dünnen Eisdecke. Ganz grundsätzlich schauen wir, dass sie nicht überfordert sind – und ganz besonders in kleineren Teams wird die Schwarmintelligenz ein sehr wichtiges Instrument, um Ersthelfer:innen vor Überforderung zu schützen. Wir nehmen ihnen die Entscheidungen ab.“

Wann beginnt sie – und welchen IQ braucht Schwarmintelligenz?

Für Schwarmintelligenz in der Ersten Hilfe gibt es aus der Sicht von Andreas Juchli nur ein Ziel: 100 Prozent. „Schwarmintelligenz strebt an, dass alle Mitarbeitenden Hilfeleistende sind, idealerweise hundert Prozent. Und in der Realität streben wir immer eine Annäherung an die Perfektion an, so nahe wie möglich“, sagt er.

Und der IQ dieses Schwarms solle möglichst hoch sein. „Wenn Intelligenz bedeutet, in der Lage zu sein, ein Ziel zu erreichen, dann sollte man diese Intelligenz maximieren“, sagt Juchli. „Es ist mir egal, wer einen AED anwendet, die Hauptsache ist, dass er möglichst frühzeitig angewendet wird. Betriebssanitäter:innen sind nicht unbedingt die schnellsten – sie müssen ja erst noch alarmiert werden – sondern es sind andere Mitarbeitende, die das Ereignis unmittelbar begleiten. Also müssen wir sie ausbilden, dass sie den Notfall realisieren, sofort alarmieren, mit pumpen anfangen und schocken, sobald ein AED da ist. Diese Emergency Skills müssen alle sofort abrufen können.“

Und das sei verhältnismässig und dadurch wirtschaftlich, sagt Juchli. „Eine Firma, die ihre Notfallorganisation nicht wirtschaftlich organisiert, wird sie auch nicht nachhaltig organisieren. Doch diese Nachhaltigkeit ist ganz entscheidend, wenn diese Systeme funktionieren sollen. Deshalb bin ich überzeugt, dass unser Weg besser funktioniert – er hat kürzere Entscheidungs- und Anwendungszeiten, die Menschen fühlen sich sicherer und dem Gesetz ist mehr als genüge getan, zu wirtschaftlich deutlich besseren Konditionen.“

Nicht für den Betrieb, für das Leben lernen wir

Andreas Juchli sieht das Potenzial für diesen Ansatz ganz besonders für Unternehmen, die viele und teilweise auch kleinere Standorte haben – beispielsweise ein Garagen-Unternehmen, das in der ganzen Schweiz tätig ist, oder wenn kleinere Teams unterwegs oder auf Baustellen tätig sind. „Er eignet sich überall dort, wo keine klassische Abdeckung durch Betriebssanitäter:innen möglich ist“, sagt er. „Diese Konzepte stammen häufig noch aus Zeiten, als grosse Betriebe ohne flexible Arbeitszeiten und Remote-Work der Standard waren. Heute leben wir in einer anderen Welt und deshalb braucht es oft andere und neue Wege.“

Und doch sagt auch Andreas Juchli: „Wir bilden auch weiterhin klassische Betriebssanitäter:innen aus, das ist kein ‚Entweder-oder‘ – man kann die Konzepte ausserdem kombinieren und die klassische betriebliche Erste Hilfe mit Schwarmintelligenz ergänzen. Aber überall dort, wo eine klassische Organisation unverhältnismässig ist, dort ist Schwarmintelligenz gefragt.“

Davon profitiert übrigens die ganze Gesellschaft, denn je mehr Menschen Emergency Skills haben, desto eher können sie auch im privaten Bereich helfen. Das kann zu Hause sein, auf dem Fussballplatz oder auf der Strasse. «Wir bieten für die Mitarbeitenden von gewissen Kunden den gleichen Support auch im privaten Bereich», sagt Juchli.

Und: «Sie können auf unseren Aktivsupport zurückgreifen, wenn sie ausserhalb des Betriebes an einen Notfall geraten. Diese Kunden schaffen es zusammen mit uns, dass ihre Mitarbeitenden leistungsfähig bleiben. Denn: ob ich ausfalle, weil ich krank bin oder weil mein Sohn krank ist, hat letztlich die gleiche Wirkung, ich fehle am Arbeitsplatz. Also ist es naheliegend, dass Arbeitgeber – die künftig noch viel mehr für die Gesundheit der Mitarbeitenden machen wollen, müssen und werden – mehr mit solchen Konzepten arbeiten. Ich bin überzeugt, das hat einen grossen Nutzen für die Gesellschaft. Und für die Arbeitgeber ist es eine kulturelle Frage. Wenn eine Hilfeleistung funktioniert, weil sie vom Arbeitgeber ermöglicht wurde, hat das eine riesige Wirkung.»

Die Kulturfrage

Wie eingangs schon erwähnt: Schwarmintelligenz ist häufig eine Kulturfrage. „Wir wollen Menschen befähigen, ihnen Vertrauen schenken und ihnen Hilfsmittel mitgeben“, sagt Juchli. „Dabei nimmt auch der IQ unserer eigenen Schwarmintelligenz zu. Wir betreuten im Sommer 2024 zwei grosse Konzerte, mit rund 880 Patientenkontakten. Da sieht man, ob unser Ansatz und unser Know-how im Ernstfall wie gewünscht funktionieren. Falls nicht – und in der Realität ist es klar, dass gewisse Details nicht perfekt funktionieren – können wir justieren und verbessern. Davon profitieren wiederum alle unseren anderen Kunden, die allenfalls mit gleichen oder ähnlichen Notfällen konfrontiert sein könnten. Auch das ist Schwarmintelligenz.“

In Zusammenarbeit mit JDMT Medical Services AG.

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Chefredaktor safety-security.ch / CEO bentomedia GmbH / Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Betriebssanität SVBS / SFJ-Award für Qualitäts-Fachjournalismus

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