Freitag, 20. September 2024
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Haben Sie sich schon einmal überlegt, wo Sie am liebsten einen Herzkreislaufstillstand hätten?

Wenn es so weit kommen sollte, hätte Beat Baumgartner ihn beispielsweise am liebsten im Tessin. Das hat nichts mit dem Wetter zu tun – sondern nur damit, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit dort am höchsten ist. Bei einem Herzkreislaufstillstand zählt nämlich jede Minute. Mit jeder Minute schwindet die Überlebenschance um zehn Prozent. Bis nach einem Alarm professionelle Rettungskräfte eintreffen, vergehen in der Schweiz durchschnittlich zehn bis fünfzehn Minuten. Zehnmal zehn sind hundert – also Null.

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Vorbildrolle Tessin

Das Tessin ist in diesen Fragen ein starkes Vorbild. «Wir sind vor allem sehr gut darin, unser System laufend zu analysieren und wir haben genaue Daten, wie das System funktioniert», stapelt Roman Burkart, wissenschaftlicher Mitarbeitender der Stiftung Ticino Cuore, tief. «Es gibt viele interessante Erfolgsgeschichten aus der ganzen Schweiz, bloss werden die Daten nicht so genau erfasst wie bei uns.» Das ist tatsächlich bescheiden formuliert, denn die ausgewiesenen Daten sind eindrücklich: Rund 50 Prozent der Patienten mit Kammerflimmern überleben im Tessin ihren Herzkreislaufstillstand! «Diese Patientengruppe profitiert am meisten von unserem System», sagt Burkart, «weil ihnen Defibrillatoren helfen und der schnelle Einsatz von First Respondern einen Unterschied machen kann.»

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Quelle: Ticino Cuore

 

Das System funktioniert so: Im Zentrum steht die Notrufzentrale. Ihr Personal wurde intensiv für die ‘Telefon-Reanimation’ geschult. «Dann haben wir die Bevölkerung ausgebildet», sagt Burkart. «Zirka 24 Prozent der Tessiner und Tessinerinnen sind BLS-AED-geschult. Wir brachten diesen Kurs auch systematisch in die Grundschule. Und wir haben als Stiftung Defibrillatoren eingekauft, heute sind das rund 1200 Geräte. Wir haben alle Blaulicht-Organisationen – also die Kantons- und Gemeindepolizei, die Grenzwacht, die Militärpolizei, die grenznahe italienische Polizei und die Feuerwehr – mit Defibrillatoren ausgerüstet und geschult. Sie werden im Notfall via App alarmiert, genauso wie 3500 registrierte Bürger mit absolviertem BLS-AED-Kurs. Das verkürzt die Zeit, bis Hilfe am Einsatzort eintrifft. Irgendjemand ist immer am nächsten. Die normalen Bürger haben zwar keinen Defibrillator, aber sie können ein öffentlich zugängliches Gerät nutzen. Davon gibt es mittlerweile rund 450. Wir stellen sie auf Anfrage zur Verfügung.» Das heisst: Ticino Cuore macht eine Analyse, überprüft den Bedarf via eines seit dem Jahr 2002 geführten Reanimationsregisters und stellt so sicher, dass eine Gemeinde nicht einfach mit Defibrillatoren überhäuft wird, sondern dass es sie dort gibt, wo sie einen grossen Unterschied machen können.

Vorbildrolle Bern

Das Tessin ist nicht der einzige Schweizer Kanton, der ein solch effizientes System aufbaute. Das machte man auch in Bern. «Wir haben ein System, das auch in der Peripherie gut funktioniert», sagt Beat Baumgartner von firstresponder.be, der in diesem Berner Projekt federführend ist. In der Peripherie funktioniert es nicht nur gut, dort hatte es auch begonnen. Der Zeitraum, bis professionelle Rettungskräfte eintreffen, ist dort nämlich noch grösser als im Durchschnitt. «Andere Regionen wollten das System dann auch und so ging es wie ein Flächenbrand weiter», erzählt Baumgartner. «Schön zu sehen ist, dass wir gar niemanden dazu überreden müssen. Es ist eine Grundhaltung. Ich selber bin zwar leidenschaftlicher Rettungsdienstler, aber um zu reanimieren braucht es zwei Hände, etwas Grundwissen und bestenfalls eine Maske. Man muss nicht Arzt oder Rettungssanitäter sein. Bei einer Reanimation sind wir alle gleich. Das heisst, es geht vor allem noch um die Quantität: Je dichter das Netz aus Menschen ist, die reanimieren können, desto erfolgreicher sind wir. Der Zeitfaktor ist massgebend, nicht der Titel. Ich denke, das haben wir nicht schlecht gemacht. Wir haben das Niveau nicht zu hoch gesetzt, aber auch nicht zu tief. Es braucht einen gültigen BLS-AED-Ausweis und grundlegendes Wissen, auf was man sich einlässt. Dann kann man sich als First Responder registrieren, wird im Notfall alarmiert und kann Leben retten.»

Im Kanton Bern sind bis heute rund 1600 solche First Responder registriert und können einen entscheidenden Unterschied machen. Zum Beispiel am letzten Heilig Abend. «Eine junge Mutter musste reanimiert werden», erzählt Baumgartner. «Dank den schnell eingetroffenen First Respondern konnte sie das Spital bald danach wieder verlassen. Als uns ihr Ehemann dann schrieb, dank diesem Einsatz sei ihm die Frau und dem einjährigen Kind die Mutter erhalten geblieben, ging das sehr tief.» Es gäbe aber auch viele andere schöne Geschichten. Zum Beispiel der 65-jährige Mann, der im Hallenbad reanimiert wurde und nun sehr dankbar ist, dass er seine Pensionierung mit seiner Frau zusammen geniessen kann. «Nicht wegen der Spitzenmedizin, sondern weil jemand an der Basis die richtigen Erste-Hilfe-Massnahmen erfolgreich und schnell machen konnte», sagt Baumgartner. «Es ist mit sehr wenig Geld extrem viel möglich. Für unseren Verein – wenn man alles rechnen würde – reicht eine halbe Million Schweizer Franken im Jahr. Jeder durchschnittliche Rettungsdienst hat ein Budget von mehreren Millionen Franken pro Jahr. Es erstaunt mich deshalb, dass nicht mehr in solche First Responder Systeme investiert wird.»

Tipps für andere Kantone

«Wir können uns sicher ein bisschen auf die Schulter klopfen, aber um sich auf Lorbeeren auszuruhen reicht es noch nicht», sagt Beat Baumgartner. «Wir sind längst nicht am Ziel und können eine weitere Steigerung der Überlebensrate hinbringen. Zum Beispiel könnten wir ein flächendeckendes System von Defibrillatoren implementieren. Die ganze Kantonspolizei ist noch nicht involviert. Wir könnten Profis mit Material ausrüsten. Aktuell schulen wir die Mitarbeitenden eines Taxiunternehmens in BLS-AED. Die sind Tag und Nacht auf Achse und können bei einem Alarm schnell reagieren. Man kann in diesen Fragen sehr kreativ sein.»

Längst nicht alle Kantone haben ein vergleichbares System. In der Stadt Zürich wird die Stadtpolizei als First Responder involviert. Sie ist im Schnitt drei Minuten früher vor Ort als der Rettungsdienst (Schutz & Rettung Zürich) und kann mit den Wiederbelebungsmassnahmen beginnen. Das Resultat: Die Überlebensrate stieg von sieben auf 14 Prozent, seit die Stadtpolizei so involviert ist. Ein anderes Beispiel liefert die Zürcher Gemeinde Pfäffikon, wo der Gemeinderat sehr engagiert ist und wo mit Unterstützung der dort ansässigen Firma JDMT das Netz an öffentlich zugänglichen Defibrillatoren verdichtet wird. Darüber berichtete safety-security.ch ausführlich. «In anderen Kantonen ist es noch schwieriger, manchmal haben sogar schon die einzelnen Rettungsdienste unter sich Mühe, effizient zusammenzuarbeiten», sagt Baumgartner.

Für Roman Burkart ist das Tessin noch nicht genug. Er versucht nun verstärkt, auf nationaler Ebene eine klare Vision zu erarbeiten und eine Vernetzung voranzutreiben. Das findet auch Beat Baumgartner wichtig. «Wir sind häufig viel zu föderal», sagt er. Auch deshalb stellt er anderen Unterlagen des Berner Systems, wie Algorithmen, Schulungsdokumente und vieles mehr, kostenlos zur Verfügung. «Es sollte letztlich schweizweit ein mehr oder weniger einheitliches System geben», sagt er.

Die Führung übernehmen

«Wenn man von Reanimation redet, spricht man immer von der Rettungskette», sagt Roman Burkart. «Doch damit so eine Kette funktioniert, braucht es Rahmenbedingungen. Und die verlangen nach Leadership. Es braucht eine Organisation, welche die Führung übernimmt und alle Akteure der Rettungskette zusammenbringt, um gemeinsam ein Konzept zu entwickeln. Wenn es in einem Kanton scheitert, dann meistens, weil die Beteiligten nicht an einen runden Tisch sitzen. Dann entsteht ein Silo-Denken anstatt eine wirkliche Kette.» Beat Baumgartner ist überzeugt, dass die Rettungsdienste diese Führungsrolle übernehmen müssten. «Überall dort, wo viel philosophiert und diskutiert wird, wo und weshalb das Geld für ein First Responder System fehlt, dort ist die Lage eher schlecht», sagt er. «Dort, wo der Rettungsdienst als erstes eintrifft, möchte ich lieber keinen Herzkreislaufstillstand haben.»

 

 

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https://www.safety-security.ch/wir-koennen-helden-sein/

 

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Chefredaktor safety-security.ch / CEO bentomedia GmbH / Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Betriebssanität SVBS / SFJ-Award für Qualitäts-Fachjournalismus

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