Freitag, 20. September 2024
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Wir zeigen auf, wie man am besten lernt und was das für das Lernen und Lehren von Erster Hilfe bedeutet.

Wer hat keine solche Erinnerungen: monotone Monologe von Lehrern oder Dozenten, die so schlimm waren, dass wir uns zwar noch an die Lektionen erinnern, aber keinesfalls mehr an die Inhalte. Vielleicht waren es Fächer, deren Sinn wir nicht so recht erkennen wollten und die uns deshalb kaum interessierten. Doch würde das Interesse allein schon ausreichen? Wenn ich als Betriebssanitäter in einem Notfall das wesentliche Wissen haben, abrufen und anwenden möchte, lerne ich es dann bereits einfacher? Und wie kann man als Lehrer oder Schulungsanbieter solche Inhalte möglichst bleibend vermitteln?

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Wir haben mit einem Menschen gesprochen, der über das Hirn und seine Lernfähigkeit so viel weiss wie kaum ein anderer. Und wir haben zwei Menschen besucht, die sich eine besondere Form des Vermittelns von Wissen rund um die Erste Hilfe ausgedacht haben.

Bewusstes und unbewusstes Lernen

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«Man muss zwei grundsätzliche Lernstrategien unterscheiden», erklärt Dr. Lutz Jäncke, Neuropsychologe und kognitiver Neurowissenschaftler an der Universität Zürich. «Es gibt das bewusste und das unbewusste Lernen. Beide Formen münden in einem unterschiedlichen Gedächtnissystem – nämlich einem bewussten und einem unbewussten. Das unbewusste Lernen passiert nebenbei, im Wesentlichen durch ‘Learning by doing’. Das erfordert sehr viel Wiederholung und vor allem auch gute Modelle. Ein Beispiel ist die Muttersprache. Wenn wir sie lernen, dann lernen wir die Grammatik und die Phonetik anhand der Modelle um uns herum. Wir implementieren die Regeln im unbewussten Gedächtnis. Diese Art Lernen beginnt schon sehr früh, eigentlich gleich nach der Geburt, und zieht sich bis ins hohe Alter. Es ist jedoch ein sehr aufwändiger Lernvorgang. Der Vorteil besteht darin, dass er sich praktisch ohne Aufmerksamkeit und kognitive Kontrolle entfaltet – also ohne bemerkbare Mühe.»

Lutz Jäncke.

Wenn wir einen Kurs besuchen, weil wir gewisses Know-how ganz bewusst lernen möchten, verhält sich das ein bisschen anders. «Beim bewussten Lernen füttern wir ganz andere Hirnsysteme», erklärt Jäncke. «Wenn wir etwas bewusst lernen wollen, müssen wir die Informationen, die wir aufnehmen, elegant codieren. Wir müssen sie also für das Gehirn anfassbar machen, damit es sie ins Langzeitgedächtnis einsortieren kann. Dieses Einsortieren und Verfestigen nennen wir Konsolidieren. Das braucht immer ein bisschen Zeit und ist ein mühsamer Prozess, der vor allem auch Aufmerksamkeit erfordert. Wir müssen Informationen konzentriert aufnehmen und dürfen uns nicht ablenken lassen. Wir sollten unmittelbar nach dem Lernen auch nichts anderes tun, das stört die Konsolidierung. Es ist ein biochemischer Vorgang, der damit angestossen wird und der in den Gedächtnisnetzwerken unseres Gehirns die Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen verändert, stärkt und moduliert. Das braucht Zeit. Und ebenfalls ganz wichtig dabei ist, dass wir diese Informationen mit anderen, bereits im Gedächtnis gespeicherten Informationen verbinden. Nehmen wir eine Vokabel, die wir lernen möchten. Wir müssen sie mit schon gespeicherten Aspekten zu diesem Begriff assoziieren: Ferrari gleich rot, Schumacher, Rennauto. Diese Sachen muss man sich vorstellen, möglichst multimodal, und mit diesem Wort verbinden. Je mehr man mit dem zu lernenden Inhalt koppeln kann, desto besser bleibt diese Information im Gedächtnis.» Viele Schulinterventionen seinen diesbezüglich völlig falsch, sagt Jäncke. «Vokabeln zu lernen, wenn sie links in Englisch stehen und rechts in Deutsch, ist vollkommener Blödsinn. Es ist zu trocken und nicht verknüpfend.»

Methodik und Didaktik

Natürlich gibt es didaktische Fähigkeiten, mit denen man Informationen und Inhalte leichter und bleibender vermitteln kann. «Wir lernen das am besten, was einleuchtend und klar ist und was sich aus der Menge anderer Informationen hervortut», sagt Jäncke. Wenn wir etwas Verwechselbares lernen, ist das schwer. Es muss herausstechen, besonders sein, deutlich sein. Und: erregendes Lernen ist besser als langweiliges Lernen. Wenn wir verbal etwas beibringen wollen, indem wir etwas erzählen, sollte man also drei Dinge berücksichtigen. Man muss es erstens redundant beibringen, also aus verschiedenen Blickwinkeln und mit anderen Worten wiederholt präsentieren. Das fördert die Vernetzung. Zweitens sollten wir die Inhalte klar und deutlich übermitteln, damit keine Missverständnisse entstehen. Und drittens sollten wir das möglichst multimodal präsentieren. Das heisst, wir sollten mit unseren Wörtern Bilder malen, damit man sich vorstellen kann, was man erzählt. Wir sollten Beispiele bringen, das ist sehr wichtig. Und letztlich sollten wir natürlich auch ein bisschen emotionale Erregung zeigen und die zu vermittelnden Inhalte interessant machen. Wenn die Zuhörer gleich einpennen, bringen wir nichts rüber.»

Bild: Stefan Kühnis

Beispiel Notfalltheater

Heidi Vock und Franziska Rüegg von der notfallTraining Schweiz GmbH machen genau das: Mit ihrem Notfall-Theater bieten sie einen anderen Zugang zu Themen der Ersten Hilfe in medizinischen Notfällen. «Wir erhielten eine Anfrage, an einem Optiker-Kongress mit mehreren hundert Teilnehmern einen Vortrag über Notfälle im Sehtest-Raum zu machen», erzählt Heidi Vock. «Ich fand das langweilig. Die Menschen hören an einem solchen Kongress einen Vortrag nach dem anderen. Ich wollte etwas cooleres machen.» Sie überlegte sich, die Sichtweise eines Gaffers einzubringen. «Wenn ein Unfall passiert, schauen die Menschen gerne hin», erzählt sie. «Man kann etwas lernen und merkt, wie gut es einem geht, dass man nicht selbst betroffen ist. Das macht dankbar. Also versuchten wir, die Teilnehmer in genau diese Sichtweise zu versetzen.» Franziska Rüegg und Heidi Vock teilen sich während dem Theater die Rollen. Notfälle erleiden beide, aber die eine spielt jeweils die routinierte Retterin, die andere spielt die unwissende Ersthelferin, die auch jene Fragen stellt, die man sich als Teilnehmer vielleicht nicht zu fragen getraut. So wird niemand blossgestellt. Im Theater lassen sich verschiedene Themen einbauen, ob Depression, Herzinfarkt, Allergie-Notfall, Ohnmacht, Lungenembolie, epileptischer Anfall, die Liste lässt sich weit verlängern. Die beiden schaffen und spielen gekonnt Szenen, die solche Notfälle erlebbar und verständlich machen, und erläutern dazwischen, was da genau abgeht. Sie vermitteln also Bilder. Regelmässig passiert etwas und die Teilnehmer werden dadurch abrupt geweckt. Laufend gibt es lustige Szenen, die zum Lachen anregen. Und alles wird geschickt mit der Theorie verbunden, es wird erzählt und erklärt und die Teilnehmer werden zum Helfen miteinbezogen.

Am Optiker-Kongress war man begeistert und das so entstandene Notfall-Theater kam auch bei den Teilnehmern gut an. Seither machen Heidi Vock und Franziska Rüegg das regelmässig und adaptieren das Theater jeweils auf die Kundenbedürfnisse. Kürzlich führte die ‘Tour’ sie beispielsweise zu Events der SVA St. Gallen / Appenzell in der St. Galler Altstadt oder der AGZO (Gesellschaft der Ärztinnen und Ärzte des Zürcher Oberlandes) im IWAZ Sozialunternehmen in Wetzikon. An beiden Orten waren Medizinische Praxisassistentinnen das Zielpublikum. «Jetzt haben wir eine Anfrage, rund um Notfälle auf Bauernhöfen etwas zu machen», erzählt Heidi Vock. «Für die Teilnehmer ist es etwas ganz anderes, etwas, das sie nicht kennen. Das schafft Abwechslung und gibt immer wieder einen Adrenalinkick, wenn etwas geschieht. Und nicht selten kann man auch lachen. Das aktiviert das Hirn ebenfalls. Wir versuchen so die verschiedenen Sinne anzusprechen, die das Lernen fördern.»

 

 

 

 

 

 

Im Notfall abrufen

«Das ist genau der Punkt», kommentiert Lutz Jäncke. «So lernen wir recht gut. Handeln, sehen, fühlen, teilnehmen. Das sind die besten Möglichkeiten, zu lernen. Unser Gehirn ist hochspezialisiert für das Lernen in der Realität: Praktische Erfahrungen, Zeit, Ort, Geschehnisse, alles wird multimodal verkoppelt.»

Um Gelerntes in ausserordentlichen Situationen, also zum Beispiel in Notfällen, abrufen zu können, sei das rein bewusste Lernen und Abrufen prinzipiell nicht gut. «Wir stehen unter starkem Stress und unter emotionaler Erregung», sagt Jäncke. «Dann muss man auch auf unbewusst abgespeicherte Automatismen zurückgreifen, die dermassen verinnerlicht sind, dass sie einfach ablaufen. Man muss anhand bestimmter vorliegender Informationen automatisch das Richtige machen, ohne sich viele Gedanken zu machen.»

Das Notfall-Theater trägt zu dieser Verinnerlichung bei. Die Teilnehmer können Theorie, Übung und multimodale Erfahrungen und Erinnerungen miteinander verknüpfen, damit sie in einem Notfall richtig reagieren. «Ich erinnere mich noch gut daran, als ich frisch im Rettungsdienst arbeitete und zum ersten Mal einen Fieberkrampf bei einem Baby erlebte», erzählt Heidi Vock. «Ich war ausser mir, aber die Notfallschwester reagierte ganz ruhig und richtig. Dem Baby ging es bald besser. Als ich zum zweiten Mal zu einem solchen Einsatz kam, war auch ich viel ruhiger und reagierte sofort richtig. Indem ich in grosser Erregung einmal zuschauen konnte, setzte sich das in der Erinnerung ab und ich konnte diese Erinnerung ganz leicht wieder abrufen.»

Nur bei Jugendlichen ist es schwieriger

Diese Dinge funktionieren übrigens bei allen Menschen gleich. Es gibt dabei keine biologisch begründbaren Unterschiede zwischen Männern und Frauen und erst recht nicht zwischen unterschiedlichen Ethnien. Unterschiede gibt es eher zwischen den verschiedenen Altersgruppen. «Kinder und Jugendliche, vor allem während und kurz nach der Pubertät, sind ein bisschen gehandicapt, wenn ich das so sagen darf», bemerkt Jäncke. «Sie sind nicht so gut im Verbinden und Vernetzen, sie sind weniger gut in der Konzentration und in der Aufmerksamkeitskontrolle. Das müssen sie erst lernen und ist bedingt durch die Gehirnreifung. Der Frontalkortex im Gehirn, der für das Encodieren verantwortlich ist, ist bis etwa zum 18. Lebensjahr nicht voll funktionsfähig ausgereift. Deshalb brauchen Jugendliche eine besondere Stimulation, damit sie Interesse haben, sich lerntechnisch zu bewegen.»

In Zusammenarbeit mit notfallTraining schweiz.

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