Freitag, 20. September 2024
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Wir haben Angst. Vor dem Büro. Hier ist es nämlich furchterregend gefährlich. Wir haben das selber getestet.

Thorsten Wiese schrieb ein Buch mit dem Titel «Warum Kugelschreiber tödlicher sind als Blitze». Er sagt, dass in Deutschland schätzungsweise 300 Menschen pro Jahr an einem Einzelteil eines Kugelschreibers ersticken. Tatsache. Im Büro wimmelt es von Gefahren.

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Unfallszenarien im Büro

Die Unfallstatistik der Schweiz sagt, dass das Unfallrisiko in den Wirtschaftszweigen mit vorwiegender Bürotätigkeit bei 22 Berufsunfällen pro 1000 Vollbeschäftigten liegt. Je nach Betrachtung ist das ein tiefer Wert; oder es sind 22 Unfälle zu viel, wenn man sich vorzustellen versucht, was denn in einem Büro so passieren könnte. Ein paar Ideen: Rund ein Drittel dieser Unfallszenarien sind Stolper- und Sturzunfälle. Relativ häufig sind auch Unfälle bei Zusammenstössen mit Kollegen und Kolleginnen, mit Einrichtungen oder Transportmitteln sowie mit nicht markierten Glastüren. Scheren und Cutter verletzten Büromitarbeitende beim Ein- und Auspacken von Waren oder beim Entsorgen von Abfällen. Umfallende Archivregale können sogar zu schweren Unfällen mit schweren Verletzungen führen.

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Wir wollten wissen, ob das alles nur theoretische Panikmache ist, oder ob Büros wirklich so gefährlich sind. Weshalb – sapperlot – stürzen, stolpern, stossen, schneiden oder ersticken sich so viele Bürogummis? Weshalb werden wir von Regalen verschüttet?

Wir sahen uns in zwei ganz verschiedenen Büros um. In einem kleinen und in einem grossen Büro. Fairerweise anonymisieren wir sie, wir wollen ja niemanden in die Pfanne hauen. Im kleinen Büro sind zwei Freischaffende tätig. Auf den ersten Blick dachten wir uns: sieht organisiert, aufgeräumt und eingespielt aus. Das grosse Büro ist der Hauptsitz eines internationalen Unternehmens und wir dachten uns wieder: sieht organisiert, aufgeräumt und eingespielt aus. Also machten wir uns an eine detailliertere Gefährdungsermittlung. Dafür gibt es verschiedene Hilfsmittel. Wir luden uns die App «SafetyCheck» aus der EKAS-Checkbox der Eidgenössischen Koordinationskommission für Arbeitssicherheit EKAS dafür herunter.

Das kleine Büro

Im kleinen Büro wurde uns bald mal bange. Die App beginnt mit einer Überprüfung der Stolperfallen:

  • Rücksäcke und Handtaschen am Boden? Ja, gibt es.
  • Abgestellte Waren? Auch, eine Kartonschachtel voll Zeitschriften, auf dem Weg zur Tür.
  • Lose Kabel am Boden? Ja, eine Menge.
  • Sonst so? Zum Beispiel das Stück Holz, mit dem man den Besprechungstisch erhöhte, das aber in den Gehweg ragt? Ja. Gibt es.

Mit der App lassen sich sämtliche Stolperfallen fotografieren und zur Abarbeitung archivieren. Es sind schon jetzt einige Fotos zusammengekommen. Die App möchte nun wissen, ob Steighilfen und Transporthilfen verfügbar sind, was wir verneinen müssen. Dann die Frage nach Glastüren. Ja, da gibt es eine. Die App empfiehlt, sie mit einer Markierung zu versehen, um sie besser sichtbar zu machen. Sichtbar ist ein gutes Stichwort. Die Türe dürfte wiedermal geputzt werden. Nächster Punkt: Treppen. Da gibt es eine. Ob sie mit einem Handlauf versehen ist, fragt uns die App. Ja, schon, aber oben und unten ist die Treppe abgedreht, der Handlauf existiert nur auf der Geraden. Dann will die App wissen, ob die Treppenstufen gut sichtbar sind, auch bei schlechten Lichtverhältnissen. Wir klicken auf «Nein». Sechstes Thema: Fluchtwege. Gibt es. Einen, nach draussen. Da es sich nur um drei Schritte handelt und sämtliche anderen Wege ohnehin unüberwindbar sind, gibt es wohl auch keine Markierung. Die App fragt, ob der Fluchtweg frei von Hindernissen ist. Wir sehen die Kartonschachtel. Ob sich die Notausgänge jederzeit und ohne Schlüssel nach aussen öffnen lassen? Ja, denn verschlossen ist die Tür nur, wenn niemand drinnen arbeitet. Die letzte Frage: Ob die Regale stabil und gesichert seien. Da gibt es ein richtig grosses Regal. Voll beladen. Stabil scheint es, aber gesichert? Nein. Zwar ist das schwere Material unten gelagert, wie es die App empfiehlt, aber bei dieser Gelegenheit erkennen wir weitere Stolperfallen. Einige Kisten ragen aus dem Regal heraus. Unten, auf Stolper-Höhe.

Wir bleiben nun an Ort und Stelle stehen und lassen die App ein Fazit ziehen: «Nicht so gut. Ihr Büro ist nicht besonders sicher. Sieben Massnahmen können zur Verbesserung beitragen.» Mal ehrlich: sieben Massnahmen reichen da nicht. Die App ist inzwischen voll beladen mit Fotos und die beiden Mitarbeitenden überlegen sich umzuziehen.

Das grosse Büro

Als wir dieses Büro verlassen, sind wir ein wenig erleichtert. Uns ist nichts passiert. Dann fahren wir einige Kilometer weiter, zum Hauptsitz eines internationalen Unternehmens. Hier gibt es Büros auf zwei Stockwerken, je zirka 65 Arbeitsplätze, rund tausend Quadratmeter Fläche. Der obere Stock ist etwas älter, das untere Stockwerk wurde erst vor wenigen Wochen eröffnet und nach neusten Standards eingerichtet. Wir fühlen uns deutlich sicherer, denn hier scheint ein Profi für Ordnung gesorgt zu haben. Dennoch zücken wir unsere App.

Zuerst im untersten Stockwerk. Wir erkennen: Auch hier gibt es potentielle Stolperfallen: abgestellte Kartonschachteln, aufeinandergestellte Bürostühle sowie Handtaschen und Rucksäcke am Boden. Aber es gibt keine losen Kabel. Sie wurden allesamt in der Decke verlegt und über Kabelkanäle zu den Arbeitsplätzen gezogen. Es gibt auf dem ganzen Stockwerk keine Schwellen und Absätze, der Teppich ist trocken, eben und nirgends verschmutzt. Steighilfen braucht es keine. Alles ist sicher vom Boden aus erreichbar. Und die Regale sind massiv, stabil, gesichert und ordentlich eingerichtet, schweres Material unten, nichts ragt in den Gehweg heraus. Wir finden keinerlei schwere Gegenstände, für die es eine Transporthilfe bräuchte.

Aber wir sehen Glastüren. Jede Menge. Und sie sind nicht markiert. Die meisten davon sind trotzdem klar erkenntlich, teils auch durch die wuchtigen Türrahmen. Dennoch registrieren wir das Thema auf der App als verbesserungswürdig. Wir lassen uns sagen, dass es im oberen Stock eine markierte Glastüre gäbe. Sie stand früher meistens offen, ist heute aber geschlossen, und man könne sie leicht übersehen – was auch schon passierte. Deshalb wurde sie nun mit einer Markierung sichtbar gemacht. Die Fluchtwege sind überall gut sichtbar gekennzeichnet, mit selbstleuchtenden Fluchtwegzeichen, und fast frei von Hindernissen. Bemängeln könnte man einzig einen Zeitschriftenspender, der links an der Wand steht, genau da, wo der Fluchtweg durchgeht. Notausgänge lassen sich ohne Schlüssel nach aussen öffnen. In den oberen Stock führt eine Treppe. Handläufe sind da, aber die Treppenstufen könnten sichtbarer sein. Wir entscheiden uns, den Punkt in die App aufzunehmen.

Oben angekommen finden wir ein paar Stolperstellen mehr. Je näher wir zu den IT-Leuten gehen, desto mehr können wir unsere App füttern. Es gibt Hocker, Kartonschachteln, Abfalleimer und Desktop-PCs, die teilweise im Gehweg stehen. In der hintersten IT-Ecke liegen sogar lose Kabel am Boden. Transportmittel sind hier vorhanden, eines davon steht gleich hinter einem Schrank. Wir knallen beinahe rein, als wir um die Ecke biegen. Und ganz zuhinterst, da steht ein Regal, bis oben mit IT-Material gefüllt. Es scheint nicht allzu stabil und nicht gesichert, schweres Material liegt auch oben, zum Beispiel Bildschirme. Dank der IT-Ecke können wir endlich auch in diesem Büro ein paar Fotos hinterlegen. Aber wir müssen festhalten: es handelt sich hier um vielleicht fünf Quadratmeter eines tausend Quadratmeter grossen Büros, das ansonsten mehrheitlich sicher erscheint.

Die App ist mit diesen Büros zwar nicht überglücklich, aber zufrieden: Prädikat gut. Sie bewertet beide Stockwerke ähnlich, wir finden aber, oben gäbe es durchaus noch Verbesserungspotenzial.

Hilfsmittel sind zum Nutzen da

Und wie sieht es bei Ihnen aus? Schauen Sie auch schon etwas weniger selbstsicher nach links und rechts? Keine Sorge. Sie sind nicht allein. Und ihre Situation lässt sich verbessern. Nehmen Sie sich Hilfsmittel zur Hand, um möglichst an alles zu denken. Denn wer sich täglich im gleichen Büro bewegt und Ecken und Kanten kennt, erkennt die Gefahren häufig weniger. Genau dann werden sie jedoch richtig gefährlich. Die App, die wir verwendeten, bietet Hintergrundwissen sowie die Möglichkeit, Gefahren zu fotografieren, einen Massnahmenkatalog zu erstellen und diesen abzuarbeiten. Es gibt diesen «SafetyCheck» übrigens kostenlos im AppStore oder in GooglePlay. Und weitere Infos und Hilfsmittel zum Thema Arbeitssicherheit gibt es hier.

Ach, das wollten wir noch sagen: Während dem Safety-Check Rundgang sollte man nicht nur aufs Handy stieren. Das kann ins Auge gehen.

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Chefredaktor safety-security.ch / CEO bentomedia GmbH / Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Betriebssanität SVBS / SFJ-Award für Qualitäts-Fachjournalismus

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